Dein Leben scheint auseinander zu fallen. In eine Vergangenheit, die sich möglicherweise von dir löst, in eine Gegenwartsinsel, auf der du mit zitternden Beinen stehst und in eine Zukunft, von der du nicht weißt, welche es sein wird und ob du sie annehmen sollst. In einer Krise fallen Dinge auseinander, die sich sonst in einem Strom bewegen, ja auseinander hervorgehen. In einer Krise werden plötzlich Scheinwerfer auf Dinge gerichtet, die sonst im Dunkeln liegen. Krisen machen Kleinigkeiten groß und Großartigkeiten klein. Gefeierte Werte hören auf überhaupt Werte zu sein.
Der Blick zurück lässt den gewanderten Weg erkennen, die Pfade im verlöschenden Licht erahnen und die Frage groß werden, wohin der Weg hätte führen sollen, was eigentlich das Ziel war. Die Vergangenheit glänzt nur an der Oberfläche, weil sie sich da sichtbar macht, was aber darunter liegt, bleibt im Verborgenen, Unklaren, ist uns nicht zugänglich. Und doch ist gewiss, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur auseinander hervorgehen können, ein gemeinsames Rad im Zeitenlauf sind.
Das Leben in der Gegenwart ist schmerzhaft, voller Verletzungen, zerplatzten Seifenblasen und irritierenden Botschaften. Nur hie und da gelingt es einem kleinen Sonnenstrahl, sich durch das Dickicht und Gestrüpp zu zwängen. Vor allem aber ändern sich die Bedeutungen der Gegebenheiten ständig. Manchmal denken wir: „Ja, so mache ich es, das ist mein Weg!“ und dann wieder: „Nein, das kann ich nicht, das will ich nicht, ich bin überfordert…“ Die Gegenwart zeigt sich in einem schillernden Farbenspiel, gleich einem Chamäleon, sie wechselt ständig ihre Gestalt.
Und die Zukunft ist wie in Watte gehüllt. Sie zeigt sich nur ungern. Alles ist offen. Mal scheint dieses möglich, dann wieder jenes nötig. Der Blick nach vorne ist verhüllt, die Klänge der Zukunftsmusik sind leise und ohne Brisanz. „Der Weg entsteht unter unseren Füßen, wenn wir ihn gehen.“ Aber gerade das Gehen in die Zukunft ist schwer, wir drücken uns davor, weil wir Angst vor der schwarzen Wand haben, die uns ihre lichte Seite nicht zeigt.
Im Tumult der Krise schwanken die inneren Festpunkte, die uns als Mensch so nötig sind. Und gerade die gilt es wieder zu erlangen, zu erringen, neu aufzubauen, um sich mit ihnen Hand in Hand durch den Tag zu bewegen. Innehalten. Mutig ins Nichts schauen. Fragen ohne Antworten lassen. Mitsegeln auf dem schwankenden Schiff. Weinen, lachen, still sein – was immer der Moment gebietet. Dabeibleiben. Irgendwie.
Eine Prüfung besteht darin, sich der Unwissenheit preiszugeben, ihr Stand zu halten – wie immer sie ausgeht. Prüfer und Prüfling kennen sich nicht. Darum kann ich dir auch nichts raten. Dir keinen Weg weisen. Still und fast sprachlos stehe ich vor dir und weiß kaum etwas zu sagen. Was ich aber kann, weil ich zu deinem Schicksalsnetzwerk dazugehöre, ist, zum Ausdruck bringen, dass ich eine Ahnung davon habe, wie es in dir aussieht, dass du nicht immer weißt, was du denkst, fühlst und willst, aber dir mitteilen, dass ich Vertrauen, die große Hoffnung habe, dass du deinen Weg findest, dass ihr einen Weg findet – auch wenn das abgedroschene Worte sind, die dich vielleicht in diesem Moment noch mehr verzweifeln lassen.
Manchmal überschätzen wir uns im Leben, pokern zu hoch, aber das gehört dazu. Das Leben ist kein Spiel, aber die Spielregeln bestimmen wir doch. Von ganzem Herzen wünsche ich dir, dass deine Kerze dich zum Ausgang des Tunnels führt, dass dich das Licht der Sonne wieder erreicht und Musik in deinem Herzen erklingt. Hilde Domin beschreibt den Weg.
Von Herzen, deine Sophie
Die schwersten Wege
Die schwersten Wege
werden alleine gegangen,
die Enttäuschung, der Verlust,
das Opfer,
sind einsam.
Selbst der Tote der jedem Ruf antwortet
und sich keiner Bitte versagt
steht uns nicht bei
und sieht zu
ob wir es vermögen.
Die Hände der Lebenden die sich ausstrecken
ohne uns zu erreichen
sind wie die Äste der Bäume im Winter.
Alle Vögel schweigen.
Man hört nur den eigenen Schritt
und den Schritt den der Fuß
noch nicht gegangen ist aber gehen wird.
Stehenbleiben und sich Umdrehen
hilft nicht. Es muß
gegangen sein.
Nimm eine Kerze in die Hand
wie in den Katakomben,
das kleine Licht atmet kaum.
Und doch, wenn du lange gegangen bist,
bleibt das Wunder nicht aus,
weil das Wunder immer geschieht,
und weil wir ohne die Gnade
nicht leben können:
die Kerze wird hell vom freien Atem des Tages
du bläst sie lächelnd aus
wenn du in die Sonne trittst
und unter den blühenden Gärten
die Stadt vor dir liegt,
und in deinem Hause
dir der Tisch weiß gedeckt ist.
Und die verlierbaren Lebenden
und die unverlierbaren Toten
dir das Brot brechen und den Wein reichen –
und du ihre Stimmen wieder hörst
ganz nah
bei deinem Herzen.
Hilde Domin
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
Als ich an dem ersten Morgen noch unten ging und in den Speisesaal trat, dachte ich bei mir: Jetzt hast du zu hoch gepokert! Plötzlich saß ich im Kreis und war aufgenommen. Es war nicht wie sonst, ein Gefühl, nein es war eine Gewissheit, die sich als Frage kundtat: Sollte dieser Kreis von Menschen schon immer zu mir gehört haben? Aber in mir lag dieser Satz, bewegungslos, wie ein See zu ruhen vermag und nun fielen Worte wie Blicke, Fragen wie Gesten, auf diese ruhige Fläche und es begannen Wellen das Bild erst zu bewegen, dann aufzulösen und schließlich neu zu formen! Mit jedem Angesicht, mit jedem Wort fiel etwas ab und baute sich gleichzeitig etwas auf, eine Art Restauration fand statt. Und ich musste nicht mehr bangen, obwohl mir bang war. Und ich begann mich zu erinnern, obwohl mein Hören wie erblindet war, ich begann zu sehen, obwohl mich der Klang schon lange seit getroffen hatte. Ich durchquerte die Würste, ihr blendend Licht verbrannte alles, etwas Wesenhaftes, aber Unscharfes tauchte auf, Bilder kamen erst später in der Arbeit. Manches prallte unmittelbar aufeinander, geballt über Körper, über Worte, über Umarmung, endloser.
AntwortenLöschenMein erster banger Morgen, unvergesslich eingeschrieben in meine sich erneuernden Zellen, wandelnde in der Zeit, weil eingekehrt in die Wärme des Erinnerns. Dankbar nehme ich deine Zeilen auf, liebe Sophie, ich lese dich sprechen, dein Sprechen in Worten ist Klang. Dir verdanke ich, den Eintritt in meine Schicksalsgemeinschaft; dir verdanke ich, dass ich mich suchend wiedergefunden habe; dir verdanke ich, dass ich das Warten auf das Wort zu erkennen beginne, Schicksalsbergendes. Ich lege es in ein Gedicht und denke liebend an meine Schicksalsgemeinschaft.
Glänzend makelloser Glanz
wie nicht gewollt und abgetrieben
eines Lebens Erinnerung
Farben hüllen auf, was noch nicht gesagt worden ist
Zart über dem Grat lichtstrahlt der Schrei einer Möve
Flügelschlag über dem Kai, der Worte vielerlei ist jetzt
unangebracht
Ich bin noch nicht am Ende
Ich bin doch erst am Anfangen
Ich brenne nach den Worten, den Bildern,
den Taten, die alles ändern
und sind