Montag, 29. Juli 2013

Die Medici in Mannheim. Was sagt der Tod über das Leben?


Der Brief an den Freund hat Wirkung gezeigt. Die Medici-Ausstellung in Mannheim ist da und macht betroffen. Es ist ein gleißend heller und heißer Tag, der Staub der Straße vermischt sich mit dem Schweiß der Haut, nur noch die Blüten, die der Sonne trotzen können, strahlen in die Bläue des sommerlichen Himmels. Die Pflastersteine des Bürgersteigs haben die Wärme angenommen, Ausdehnung und Schläfrigkeit übernehmen die Regie. In der Stille hören sich die vielen Geräusche wie klopfende Lebenszeichen an. Das Tor zur Ausstellung ist im ersten Stock und führt in die dunklen Grabkammern der Medici-Dynastie.

Aber, trotz Dunkelheit, strahlt auf dem ersten Bild die Stadt am Arno. Ein großes, lichtdurchflutetes Foto nimmt den Betrachter wie in die Arme, heißt ihn willkommen, stellt sich als Präludium zur Verfügung und zeugt von der dauerhaften Präsenz der alten Zeit. Das Bild lässt die Stadt wie an den Rand der Bühne vortreten und sich hell im Dunklen zeigen: Hier präsentieren sich die entscheidenden Requisiten, das Bühnenbild, hinter dessen Kulissen und in dessen verborgene Geheimnisse die Ausstellung Einblick gewähren will.

Die Silhouette der Stadt zeigt steinerne Mauern, Gewölbe, Dächer. Der Dom, unverkennbar, der Campanille, stolz und erhaben, der Palazzo Veccio, in dem Politik betrieben wurde, Santa Croce, San Lorenzo, San Marco um die zuvorderst herüberwinkenden Gebäude zu nennen. Fast vierhundert Jahre Medici – untrüglich mit Florenz verbunden, auch wenn es eine ganze Menge Exilzeiten zu beklagen gibt. Mich interessieren die goldenen Jahre, die mich immer wieder berühren, das 15. Jahrhundert - darin kenne ich mich aus.

Vom Tageslicht gänzlich abgeschirmt und an schwarze Wände gehängt, zeigen sich Bilder, Tafeln, Texte und Vitrinen. Das gemalte Antlitz der Lebenden wird den Todesumständen gegenüber gestellt. Cosimo il Vecchio, 1389-1464, der als entscheidender Begründer des Medici-Mythos im Florenz des 15. Jahrhunderts genannt wird, hatte eine Krankheit die damals Gicht genannt wurde, und heute unter dem Namen Arthritis firmiert. Die Untersuchungen seiner Wirbelsäule, die nach der erneuten Exhumierung aus der Grablege in San Lorenzo gemacht wurden, zeigen Verwachsungen auf, außerdem soll er von der Schuppenflechte geplagt worden sein. Gestorben ist er im Alter von 69 Jahren an Nierenversagen.

Seinem Sohn Piero il Gottoso, 1416-1469, ging es kaum anders, er überlebte seinen Vater nur um fünf Jahre. Von der Arthritis schwer gezeichnet, ebenfalls vom Juckreiz der Schuppenflechte stark geschwächt, erlag er mit 53 Jahren einer Hirnblutung. Lorenzo il Magnifico, 1449-1492, wurde nur 43 Jahre alt, er wurde ebenfalls von Arthritis und Schuppenflechte geplagt, die Todesursache ist jedoch bis heute, auch nach der erneuten forensischen Untersuchung, unbekannt. Er starb in Careggi, an jenem Morgen, im April. Sein Sohn Piero lo Sfortunato, 1472–1503, übernahm bis 1494, zum Einmarsch des Königs von Frankreich, das Regiment, er erlebte die Rückkehr seiner Familie an die Macht in Florenz aber schon nicht mehr, denn er ertrank während eines Kampfes in einem Fluss.

Das Attentat auf Lorenzos Bruder Giuliano, im April 1478 im Dom, dem auch Lorenzo zum Opfer fallen sollte, bekommt durch die dargestellte forensisch-anthropologische Analyse noch einen grausameren Beigeschmack als ihn dieser Mord sowieso schon hatte. Während des Hochamtes müssen sich die Mörder auf den ahnungslosen Liebling der Florentiner mit Mordwaffen gestürzt haben. Neben den Tatwaffen wird auch Giulianos Schädel mit den vielen tödlichen Verletzungen gezeigt. Auch der rechte Unterschenkelknochen wird mit seiner „Läsion“, wie es offensichtlich fachsprachlich heißt, präsentiert.

Was sagt der Tod über das Leben aus? Die Todesursache über das Leben des Einzelnen, mit seinen vielen Momenten des Zweifels, der offenen Fragen, der Hilfsbedürftigkeit? Oder auch den Momenten des Glücks, des Aufgehobenseins, des Erfolgs? Schon damals reichte das Schicksalsnetzwerk über die familiären Bande hinaus. Wer waren die Mitarbeiter in den Geldgeschäften, wer die Sekretäre, die Angestellten im Haus, die Reiter, Boten, Botschafter, Lehrer, Vertraute oder gar Freunde? Das Leben der Medici im 15. Jahrhundert ist ohne den Netzwerkgedanken nicht zu verstehen.

Aber diesen Blickwinkel präsentiert die Ausstellung nicht, sie hält sich an verwandtschaftliche Bande. Wohl tauchen, fast nebenbei, ein paar bekannte Namen auf, Michelangelo, Leonardo da Vinci, Savonarola, Botticelli, Angelo Poliziano, Pico della Mirandola, Marsilio Ficino… Doch in den Grabkammern der Medici liegen nur Medici und jeder für sich allein, heute wieder in San Lorenzo. Geheimnisse bleiben Geheimnisse, vergessene Geburtstage bleiben vergessen und auch die geöffneten und wieder verschlossenen Gräber hüllen sich weiterhin in Schweigen.

Gerade durch den Blick auf die Schädel erwachen in meiner inneren Welt die Toten. Sie verwirren mich. Tot bedeuten sie mir nichts, denke ich, was mich wach, offen und neugierig macht ist doch ihr Leben, sind ihre Motive, ihre Impulse und Intentionen sowie ihre Sehnsüchte und Bestrebungen – auch noch nach fünfhundert Jahren, ich bin, wieder einmal, wie elektrisiert und spüre Ruhe und Unruhe zugleich. Was ist es, was zwischen den Menschen um Lorenzo im alten Florenz gewebt hat, was durch den Kreis um ihn geschehen ist, durch Begegnungen und gemeinsame Vorhaben und Unternehmungen entstanden ist? Und, vielleicht noch spannender, welche ihrer Pläne konnten noch nicht verwirklicht werden, was liegt noch immer in dem verborgen, was wir Zukunft nennen, was darauf wartet, gegenwärtig werden zu dürfen?

Dass sich die Medici-Dynastie durch Todesumstände und Schädel in Mannheim präsentiert und in Erinnerung ruft, berührt, von Beginn der Ausstellungseröffnung an wusste ich, dass ich mich wieder in diese Geschichte begeben würde, die irgendwie zu mir gehört. Aber ich habe bis auf die letzte Woche der Ausstellung gewartet, bis ich hingegangen bin… Und heute sitze ich hier bei einem Espresso und frage mich, was, zum Teufel, ich mit den alten Typen aus Florenz nun wirklich zu tun habe, denn mein Berührtsein hat doch wohl eine Quelle und einen Sinn…

Montag, 22. Juli 2013

Jeder ein Held? Der ganz normale Wahnsinn eines heldenhaften Lebens


DIE ZEIT titelte letzte Woche: „Wer ist ein Held?“ und bot einen interessanten Artikel an, in dem es um die Frage geht, welche Art von Heldenhaftigkeit sich im Individuum verbirgt und ob jeder es schafft, sein Leben zu einem Kunstwerk zu machen und seine Einzigartigkeit zur Schau zu stellen, eben heldenhaft zu sein. Große Namen geistern durch die Geschichte und man tut gut daran, mindestens verschwägert zu sein, wenn man schon selbst kein anerkannter Held ist, damit man sich daran irgendwie emporranken kann.

Über den Artikel nachsinnend geht mir einiges durch den Kopf: Helden sind Typen - Männer oder Frauen (manchmal auch Kinder) - die etwas Besonderes leisten. Sie sind Gefahren ausgesetzt, zweifeln, geraten in ausweglose Situationen, schaffen das Unerwartbare – irgendwie – und kommen gerade noch so davon (oder auch nicht!), sie kommen durch (mindestens ideell), überstehen die Gefahr oder den Gang durch die Wüste. Helden kommen irgendwie an - in sich oder in der Welt. Auch, wenn sie ihr Leben dabei verlieren, sich opfern, nur noch erinnert werden (gerade da wachsen sie oft über sich hinaus). Ihre (versuchten) Taten sind das entscheidende. Gilt das nicht für jeden von uns?

Und wenn man schon selbst kein Held ist, oder erst posthum dazu ernannt wird, dann ist es immer noch möglich das Erbe eines Helden durch das eigene Leben zu tragen, die Mutter, der Großvater, die kinderlose Tante zweiten Grades, das Patenkind in Äthiopien… Wir brauchen Helden und Heldentaten um weiter zu machen, um Sinn zu stiften, um unsterblich zu werden - das Leben schlicht und ergreifend auszuhalten. Wie man aber zu einem Helden avanciert scheint ein Geheimnis zu sein, das in den Nebentexten des ganz normalen Wahnsinns zu suchen ist.

Es ist noch gar nicht so lange her, als unser Lebenslauf noch von außen bestimmt wurde. Die Gesellschaftsschicht und der Beruf waren vorgezeichnet, die Frage war höchstens, ob es möglich war, vom eigenen Dorf in ein benachbartes zu kommen oder zu bleiben, die Ehe mit dem kleineren Übel einzugehen, oder diesbezüglich Glück zu haben. Sich zu einem Helden zu machen, über die gesellschaftliche Bestimmung hinaus, war Gottes Hand überlassen.

Heute sind wir Selbstgestalter unseres Lebens, jeder seines eigenen Glückes Schmid, postmodern ist es allemal, sich selbst zu erfinden und wieder zu dekonstruieren, der eigenen Intention auf der Spur zu sein und zuzugeben, nichts über die wahre Bestimmung zu wissen. Nein, ich behaupte, dass fast jeder darum bemüht ist, seinem innersten Kern auf die Spur zu kommen und sich selbst so zu leben, wie es ihm oder ihr erstrebenswert erscheint. Wer weiß aber schon, worum es dabei wirklich geht (was steht eigentlich in den geheimnisvollen Fußnoten des Lebens)?

Was für ein Stress, von der Wiege bis zur Bahre auch noch ein Held zu sein – am besten jeden Tag. Gut und Böse gibt es nicht mehr, die schleichenden Mischformen sind nicht deutlich zu definieren. Wie kann ich da wissen, was ich will und schon gar, was irgendwie heldenhaft wäre? Der eigene Wille schläft, sagt Steiner, und da bietet es sich doch an, sich nach außen zu richten. Entscheiden wir wirklich selber über unser Leben oder sagen wir einfach nur Ja zu dem, was auf uns zukommt? (Das scheint mir eine wirkliche Heldentat zu sein.)

Hip ist derjenige, der sich zum Helden macht und seine besondere Story auch noch erzählt – aber das Strickmuster ist gleich geblieben. Die ausweglose Situation wird überwunden, die undurchdringliche Verstrickung entwirrt, der überraschende Mut siegt, Geistesgegenwart wird prämiert, das Gute entfaltet sich, die famose Wendung geschieht – schlicht, das Unerwartete passiert (doch noch). Das vermeintlich vergebliche Warten hat plötzlich ein Ende, das Schicksal eine Chance, es geht weiter – über das eigene Leben hinaus.

Warum muss jeder ein Held sein? Etwas Besonderes, Individuelles, Unverwechselbares? Der Stress macht mürbe. Ist nicht gerade das Normale das Besondere geworden? Kann ich nicht einfach morgens aufstehen und einen ganz normalen Tag verleben, mit Zeitung, Brötchen, einem Buch und dem Gespräch mit Vertrauten? Ich bin ich. Und will kein Held sein. Was ich brauche ist das Gefühl angenommen zu sein, von mir selber und meinen Nächsten – und das hat vermeintlich nichts mit Heldentum zu tun. Es ist normal und still und einfach zu handhaben. Das Geheimnis der Heldenhaftigkeit entblößt der Text des Alltäglichen nicht, hierzu helfen nur die Chiffren in den Fußnoten weiter – wenn man sie zu entschlüsseln weiß.

Montag, 15. Juli 2013

Aus der Zeit fallen. Von der Angst vergessen zu werden


Sie hat sich auf einen Baum gerettet, klammert sich zitternd an die dürren Äste und versucht ihren Atem zu beruhigen, damit sie nicht entdeckt wird. Unter ihr treffen die Gegner aufeinander, ein Kampf entbrennt, die Fremden haben das Versteck gefunden und gebärden sich siegessicher. Sie überblickt die staubige Ebene, hinter jedem Steinbrocken bewegt sich etwas, Feind oder Freund? Auch in den anderen Wipfeln regt sich das dürre Blattwerk, fast droht ihr das Bewusstsein zu entschwinden.

Als der Abend sich niedersenkt, verschwindet die Sonne hinter dem Horizont und damit ihr Vertrauen. Krähen umkreisen den Ort des Geschehens. Tote liegen verstreut, Freunde und Feinde sind hinter der Klippe verschwunden. Die Eisenbahnlinie gen Osten liegt immer noch da, als wenn nichts geschehen wäre, nur die Wagen der 3. Klasse wurden vergessen und harren der Dinge, die die Menschen mit ihnen vorhaben. Noch immer wagt sie sich nicht hervor, die Dramatik der vergangenen Stunden hat ihre Blutbahnen verengt. Die Weite der Einsamkeit liegt vor ihr.

Oder so.

Er sitzt am Ufer der Steilküste und schaut übers Meer, als er wieder daran denkt. Die Finger seiner Hände gekrümmt und tatenlos. Es hätte alles anders kommen sollen, ja müssen, aber das Unerlaubte hatte sich durchgesetzt. Er wurde gefangen genommen, als die anderen fort waren, obwohl er so gerne hätte mitgehen wollen. Aber die Wachstunden oblagen ihm und er fügte sich, ach, hätte er doch nur… Seine Vergangenheit ist weit und tief, nah und fern, manchmal gefrieren die Bilder. Der unverbrüchliche Vertrag hätte nicht dazu führen dürfen, dass er nach so vielen Jahren alleine hier sitzt.

Er wusste nicht, was geschehen war. Seine Erinnerung war von schwarzen Flecken durchzogen, die ihn an die Wand seines Gefängnisses erinnerten und die Weite der Ewigkeit offen legten. Hatte es denn nie ein Ende? Würde sie, nach all den Jahren des Wartens und Ausharrens zurückkehren? Der Druck in seiner Brust wurde unerträglich. Er war mit dem Leben davon gekommen und wusste nicht wofür. Er verstand die Sprache der Menschen nicht, konnte ihre Schriftzeichen nicht entziffern. Hatte es Sinn dem Signal nachzugehen, wo waren sie, die Gefährten?

Vielleicht.

Vergessen und vergessen werden. Loslassen aber nicht aufgeben. Dranbleiben aber nicht erzwingen. Das Individuum konstituiert sich durch Erfahrung, die sich einbrennt, sich tief in den Knochen ablagert. In beiden Fällen liegt ein Schatten über der Erinnerung, der seinen Schleier nicht freigibt. Und einen scheuen Wunsch erahnen lässt, der in der Zukunft vergraben liegt. Verbindlichkeit, Verlässlichkeit, Geborgenheit – Aufgehoben sein. Was könnte es gewesen sein, was damals geschehen ist, ein Verrat, eine Flucht, ein Kampf oder eine Leidenschaft? Und warum bricht sich die Angst, einander nicht wieder zu sehen bis heute Bahn?

In welchem Zusammenhang standen die Betroffenen? Vielleicht waren es gerade keine hehren Ziele, die sie miteinander verbanden, keine Widerstandskämpfer, Templer oder andere weiße Schwäne, die sich durch die Geschichtsschreibung ziehen und deshalb dem Vergessen nicht anheimfallen. Oder doch? Spielt das eine Rolle? Die Bilder tragen, irgendwie, und es ist banal, aber wahr, der Verstand hat keinen Zugriff darauf.

Die Angst bittet um Respektierung. Die Dramatik hat sich von außen nach innen verlagert, in Friedenszeiten muss die Seele arbeiten. Ihre Hinwendung zueinander ist unbestreitbar, untrüglich, das imaginäre Band nährt sich durch die Schleifen des Lebens. In allem, was wie ein Kaleidoskop die Stunden des Tages durchzieht. Die Zuwendung hat Bestand, auch wenn die Züge der Deutschen Bahn manchmal Verspätung haben.

Montag, 8. Juli 2013

Walter Benjamin und die Stumme Sprache der Dinge


Das Gespräch über Benjamin hat mich betroffen gemacht, in mir ist etwas verstummt, eine blaue Stille ist entstanden. In dieser Stille ist zwar auch etwas zu hören, aber die Worte haben keinen Zugang zur Außenwelt sondern kreisen verstört in meinem inneren Universum. Und ich respektiere das, nehme die befangene Stille an. Heute. Verlange nicht, dass Worte aus meinem Mund kommen. Ich kann sie nur über eine andere Bahn schicken, ihnen die Möglichkeit geben, sich sacht und leise über Fingerspitzen und Augen-Blicke erlebbar zu machen. Du verstehst?

Ich weiß, es geht um die Worte im Inneren, um Bilder und Geschichten, um das Gespräch in mir, in dir, zwischen uns – mit ihm! - das sich entfaltet, entblättert, entblößt. Darum, dass Mensch und Welt nicht voneinander getrennt sind, sondern jeden Augenblick neu auseinander hervorgehen, miteinander klingen, irgendwie. Wenn ich in mich hinein lausche, dann höre ich, dass Benjamin auch in der blauen Stille in mir spricht, mit seiner leisen Stimme (die ich nie gehört), seinem vorsichtigen und durchdringend fragenden Blick (den ich nie gesehen habe) und doch… Er spricht, es spricht, etwas klingt und ich schweige. Du aber forderst, dass ich gerade von diesem inneren Gespräch erzählen möge. Wie soll das gehen? Ich bin doch sprachlos.

Gerade mit der Sprache, dem Thema der Sprachlosigkeit hat Benjamin gerungen. Er ist mir über seine Schriften entgegen gekommen, über seine Worte, die ich auf dem Papier gelesen habe, sie sind in mir erwacht, im Laufe der Zeit, irgendwie, und haben begonnen zu sprechen. Davon habe ich dir erzählt, damals im Zug. Du kanntest ihn bis dahin nicht. Aber es dauerte nicht lange, bis sich deine Tür für ihn öffnete, so dass er auch in dir einen Ort erhielt, ein gern gesehener Gast wurde. Benjamins Worte klingen, um es romantisch, ja vielleicht abgedroschen zu sagen, sie haben eine Aura. Längst sind natürlich auch die Worte von anderen dazu gekommen, die sich über die Worte Benjamins erheben und davon erzählen, was sie anrichten – zwischen mir und dir, zwischen ihm und ihr, im Zwischenraum.

Benjamin schreibt in der „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“:

Der Strumpf
Der erste Schrank, der aufging, wann ich wollte, war die Kommode. Ich hatte nur am Knopf zu ziehen, so schnappte die Tür aus ihrem Schlosse mir entgegen. Unter den Hemden, Schürzen, Leibchen, die dahinter verwahrt gelegen haben, fand sich das, was mir ein Abenteuer aus der Kommode machte. Ich musste mir Bahn bis in ihren hintersten Winkel schaffen; dann stieß ich auf meine Strümpfe, die da gehäuft und in althergebrachter Art gerollt und eingeschlagen ruhten. Jedes Paar hatte das Aussehen einer kleinen Tasche. Nichts ging mir über das Vergnügen, die Hand so tief wie möglich in ihr Inneres zu versenken. Ich tat das nicht um ihrer Wärme willen. Es war »Das Mitgebrachte«, das ich immer im eingerollten Innern in der Hand hielt, was mich in ihre Tiefe zog. Wenn ich es mit der Faust umspannt und mich nach Kräften in dem Besitz der weichen, wollenen Masse bestätigt hatte, begann der zweite Teil des Spieles, der die Enthüllung brachte. Denn nun machte ich mich daran, »Das Mitgebrachte« aus seiner wollenen Tasche auszuwickeln. Ich zog es immer näher an mich heran, bis das Bestürzende sich ereignete: ich hatte »Das Mitgebrachte« herausgeholt, aber »Die Tasche«, in der es gelegen hatte, war nicht mehr da. Nicht oft genug konnte ich die Probe auf diesen Vorgang machen. Er lehrte mich, dass Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes dasselbe sind. Er leitete mich an, die Wahrheit so behutsam aus der Dichtung hervorzuziehen, wie die Kinderhand den Strumpf aus »Der Tasche« holte.
[1]

Diese kurze Erzählung kommt an, bei mir, sie eröffnet ein weites, ja sehr privates Feld und umschließt Individuum und Welt – als Prozessgeschehen. Sie berührt Ebenen und Aspekte, die sich wie die Strahlen eines Kaleidoskops in die Welt der Gefühle, Erinnerungen, Ahnungen, Wünsche und Gedanken verströmen. Ein Kind, die Kommode, der Strumpf, die Hand – das Erlebnis. Und: die Schlussfolgerung.

Das Erlebnis wird zum Ereignis, eine kindliche Alltagsbegebenheit verzaubert, nackt und respektvoll, die Erinnerung an Vergangenes erschafft Zukunft. Die Stumme Sprache, wie Benjamin sie in seinem frühen Aufsatz von 1916 beschreibt[2], wagt sich aus dem Strumpf hervor und wirkt. Das Innere des Strumpfes spricht.

Und indem ich mich in die Erzählung begebe, ihr nachgehe, entrollt sich der eingewickelte Strumpf in mir, meine Finger tasten das Verborgene, das Mitgebrachte wird zur Tasche, die mit Benjamins Worten gefüllt ist und meinen begegnet – die blaue Stille erwacht und rinnt in die Welt. Das Gespräch mit ihm ist tastend – delikat. Verstehst du, wovon ich mit meinen Fingerspitzen und den Augen-Blicken sprachlos und stumm erzähle? Lass uns weitersprechen, irgendwie. Erzähle, was entfaltet Benjamins Erzählung in dir?

[1] Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Fassung letzter Hand. Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt, 1987, „Der Strumpf“, Seite 58.
[2] Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen.

Montag, 1. Juli 2013

Noch immer sind die Tage lang...


...aber die Sommersonnenwende liegt bereits hinter uns. Es geht auf den Herbst und Winter zu. Dabei ist es noch gar nicht so richtig Sommer geworden oder gewesen. Tageweise konnten wir uns der Natur übergeben, aber die große, lange und breite Wärme fehlt noch immer. Die Natur ist grün, der Himmel verhangen, es regnet leicht und spritzig.

Als ich dich treffe und frage, wie es dir geht, bricht sich der innere Tumult Bahn. Du nennst es Übergangszeit, hoffst, dass sie vergeht, und dann öffnet sich das Tor, offensichtlich ungeplant: Du sprichst und erzählst. Berichtest von Begebenheiten, gibst wieder was dieser und jener gesagt hat, beschreibst, wie er dabei ausgesehen hat, um welche Uhrzeit sich diese Szene abgespielt hat und jene, was vorsaugegangen ist und was danach passierte, Namen und Motive poltern über den Tisch, mir fremde Menschen werden fragmentarisch sichtbar, aber du verschwimmst.

Ein Konglomerat von Verstrickungen, ungeklärten und unerfreulichen Begebenheiten, ich finde mich mitten in deinem Beziehungsnetz wieder. Kenne mich nur vage aus, spüre aber die Spannungen und Verletzungen, die Fragen und Abhängigkeiten. Ich höre zu, versuche zu verstehen, lasse den Wunsch zu verstehen wieder los, bin einfach da, höre, schaue und bin ein bisschen ratlos. Du bist drin und bleibst drin, ich sehe das und kann dich da nicht rausholen.

Die Sonne kommt hervor. Der nasse Boden dampft. Und die Menschen erscheinen unmittelbar auf dem Marktplatz, die Eisdielen öffnen ihre Fenster für den Straßenverkauf wieder, Bänke und Tische werden trockengewischt, die Erleichterung über den dumpfen Sommernachmittag ist spürbar. Die Kirchturmglocke schlägt vier Mal, auch Familien mit Kindern sind zu sehen, der Glasharfinist schiebt sein Wägelchen in die Mitte des Platzes und beginnt zu spielen.

Und dann rufst du an. Beginnst mit einer unverfänglichen Frage, die die geschäftliche Welt betrifft. Aber ich höre es sofort, es ist mehr dahinter. Erst klären wir das, was an der Oberfläche zu verhandeln ist, ich gebe dir Infos, Tipps, mache Vorschläge wie die Sache zu lösen sei. Und dann beginnt die Leere. Als ich frage, was los sei, sagst du, dass es das große Loch sei, dem du zu entschwinden trachtest, die gähnende Leere, die Schwere, Idee und Wirklichkeit trennt ein sauberer Schnitt mit einem scharfen Messer.

Und du hältst es nicht aus, dass alles so lange dauert, so kompliziert ist, Ideale so ungreifbar sind, verachtest dich selber für deine Untätigkeit, willst etwas von anderen, denkst es sei nutzlos, gehst lieber schlafen, oder einen Film anschauen, trinkst etwas, rauchst, die Zeit vergeht, ohne, dass die großen Taten getan werden, lähmende Schwermut macht sich breit, es bringt alles nichts, die Mühe ist vergeblich, der Apparat zu schwerfällig, du hast keinen Bock mehr.

Ich versuche zu trösten, Mut zu machen, um Geduld zu bitten, dranzubleiben, nicht aufzugeben. In den Wassertropfen, die der Springbrunnen fallen lässt, spiegeln sich die Farben des Regenbogens. …und dabei bräuchte ich eigentlich selber jemanden, dem ich mal erzählen könnte, was mich so beschäftigt, womit ich ringe, wonach ich mich sehne. Ich bleibe auf der Bank sitzen, esse ein Eis und beginne zu schreiben.