Freitag, 26. März 2010

Von einer Frage- zu einer Antwortkultur

Elfriede, du hast danach gefragt, wie sich eigentlich das Wesen von Fragen und Antworten beschreiben lässt. Eigentlich dachte ich, dass ich dazu viele Ideen hätte und einfach darauf los schreiben, dir eine Antwort geben könne. Aber es sieht nicht danach aus. Ich beobachte mich selbst, wie ich beginne unruhig zu werden, ziellos im Internet zu surfen und Fragebögen von Schriftstellern (Max Frisch und Marcel Proust) aufzuschlagen… Aber ich weiß unmittelbar, dass das zu nichts führt. Also versuche ich einen Raum in mir selber zu öffnen, Zugang zu finden. Wo liegen meine eigenen Fragen, wo mögliche Antworten, die darauf warten in Worte gefasst zu werden?

Fragen zu stellen war mir schon immer sympathisch. Fragen bringen eine lebendige, aktivierende Unruhe, die Bewegung erzeugt. Gute Fragen können ein Gespräch richtig vorantreiben. Und irgendwie klappt das meistens auch ganz gut. Ich höre oder lese etwas und schon zeigen sich Anknüpfungsmöglichkeiten – Fragen (und Anmerkungen) eben.

Vor vielen Jahren habe ich einmal eine Arbeit über ein ausgefallenes Thema geschrieben, den Manichäismus. Und ich lernte in diesem Zusammenhang jemanden kennen, der ein echter Experte auf diesem Gebiet ist. Ich setzte mich also hin und begann in einem Brief (damals noch handschriftlich) meine Fragen zu formulieren.

Leider habe ich keine Kopie mehr von diesem Brief, aber es waren sicherlich „echt gute“ und vor allem unglaublich viele Fragen. Und weißt du, was mir der Experte antwortete? Er war tief beeindruckt von meinen vielen Fragen. Er war berührt, betroffen und erschüttert, und brachte zum Ausdruck, dass er noch nie so viele Fragen, die zum Thema gehörten, auf so engem Raum versammelt gesehen habe. Und er sagte mir, dass ich die halbe Arbeit ja schon geschafft hätte – jetzt müsste ich die Fragen nur noch selber beantworten…

Darüber war ich natürlich nicht sehr glücklich. Ich war zwar froh, mich als gute Fragestellerin geoutet zu haben, aber Antworten hatte ich mir tatsächlich von ihm erhofft. Ja, wie ist das mit Antworten? Brauchen Fragen immer Antworten? Und was geschieht mit Fragen, die nicht beantwortet werden?

Deutlich ist, dass die Frage zuerst kommt. Und wenn sie Glück hat, wird ihr eine Antwort gegeben – nicht immer aus Worten. Dann scheint die Sache komplett zu sein. Frage und zugehörige Antwort. Aber umgekehrt? Erst die Antwort und dann die Frage? Auf welcher Ebene müsste das dann geschehen? Zwischen Frage und Antwort gibt es also einen geheimnisvollen Zusammenhang, ein Ineinanderspielen, ein Auseinanderhervorgehen und eine Weiterentwicklung. Aus Fragen entstehen Antworten und aus guten Antworten weiterführende Fragen.

Eine der Ur-Fragen, die heute oft zur Floskel geworden ist, ist ja die nach dem Befinden des Anderen. Es ist die Frage, um die sich das Parzival-Epos von Wolfram von Eschenbach dreht. Parzival, der naive, unwissende und selbstbezogene Jüngling, lernt, den Blick auf seine Umgebung, seine Mitmenschen zu richten. Ihm war beigebracht worden, dass er nicht zu viele Fragen stellen möge – nicht neugierig sein solle – und durch diese Nicht-Frage, durch seine Stille, seine Zurückhaltung und sein Staunen, hat sich ein großes Unglück auf der Gralsburg vollzogen.

Parzival hätte nach dem Befinden Anfortas fragen müssen, können, sollen, dürfen - dann wäre der siechende Gralskönig sofort erlöst worden. Aber er wusste nicht, dass er eine Frage zu stellen hatte. In der Folge der nicht gestellten Frage ist ihm aber eine Antwort gebracht worden – obwohl er nicht gewusst hat, dass er diesbezüglich überhaupt eine Frage hatte. Die Antwort war die innere Unruhe, das Schuldgefühl, das Versagen und damit das Verzagen.

Die darauffolgende Leistung Parzivals besteht in dieser Hinsicht darin, dass er mit dieser Unruhe einen Weg gesucht hat, um eine neue Chance zu bekommen. Und er tut viereinhalb Jahre nichts anderes, als den Weg zur Gralsburg zu suchen, damit er seine Frage stellen kann. Als er dann endlich wieder vor dem Gralskönig steht und seine Frage stellt (Oheim, was wirret dir?), bedarf es keiner verbalen Antwort mehr. Die Antwort ist das Wunder, das sich vollzieht: Anfortas gesundet.

Fragen und Antworten brauchen Zeit und Raum, sie haben eine eigene Biographie. Manchmal zeigen sie sich in einem verhüllenden Kleid. Die Frage „Wie geht’s?“, wird heute ständig gestellt, diese Frage haben wir in den vergangenen 700 Jahren verinnerlicht. (Vor 1200 übrigens war das keine geläufige Frage!) Heute scheint mir die Herausforderung eher die Antwort zu sein. Wie antwortet man eigentlich adäquat auf eine Frage? Welchen Raum brauchen Antworten und wie kreiert er sich?

Zu einer Fragekultur gehört eine Antwortkultur. Fragen stellen können wir. Nun ist die Herausforderung also die Antwort. Gibt es auch dafür ein Urbild? Deutlich zu sein scheint mir, dass wir uns daran gewöhnen müssen, dass es nicht nur eine einzige Antwort gibt. Es gibt unzählige „richtige“, passende, weiterführende und immer wieder neue Antworten. Zeit, Raum und die Perspektive spielen dabei eine große Rolle. Schließlich geht es um den zwischenmenschlichen Raum, in dem sich eine Antwort ausbreiten kann.

Und damit ist auch gesagt, dass der Dialog die Urform des Fragens und Antwortens ist – das hat uns schon Sokrates gezeigt. (Natürlich kann man sich auch selber Fragen stellen und sie beantworten – aber so richtig kreativ wird es ja erst, wenn sich mindestens zwei Menschen zu einem Gespräch einfinden.) In diesem Sinne lade ich meine Leser und Leserinnen dazu ein, an dem Dialog über Fragen und Antworten teilzunehmen und sich einzubringen. Wer hat eine gute Antwort darauf, was eine Antwort eigentlich ist?

Freitag, 19. März 2010

Und noch einmal: zeitgemäße Erwachsenenbildung

Vor einigen Wochen habe ich an einer Fortbildung teilgenommen. Heute frage ich mich, was davon hängengeblieben ist. Wozu machen wir Fortbildungen und was sollte durch diese Art der Weiterbildung für denjenigen, der daran teilnimmt entstehen? Was sind Lernprozesse, die nachhaltig wirken? Ich werde in diesem Artikel erneut versuchen zu beschreiben, was meines Erachtens für eine zeitgemäße Erwachsenenbildung nötig ist.

Die Fortbildung dauerte eine Woche. Fünf Kurse gab es zu belegen, sodass jedes Thema an fünf Tagen jeweils zur gleichen Zeit, etwa anderthalb bis zwei Stunden, besprochen und bearbeitet werden konnte. Titel des Seminars und Dozenten waren vorher bekannt. Mehr nicht. Wer und wie viele Menschen teilnehmen würden, was die Themen im Speziellen beinhalten oder hinterfragen würden, welche Art von Eigenarbeit zu leisten sei und vor allem, wie man sich vorbereiten könne, wurde den Teilnehmern vorenthalten.

Diese Umstände brachten es mit sich, dass die Spielregeln zunächst einfach waren: gefragt war lediglich Anwesenheit. Und so unterschrieben wir auch jeden Tag auf einer Liste, dass wir anwesend waren. Mehr nicht. Der Unterricht - die Seminarstunden - fanden auf klassische Art und Weise statt: Wir saßen zusammen im Seminarraum, haben geredet und zugehört. Und es stand ein Lehrer vorne. Er hat uns erzählt, was er zu sagen hat. Wir durften Zwischenfragen stellen und es entwickelten sich immer wieder auch kurze Gruppengespräche. Mehr aber nicht.

Dadurch, dass nicht bekannt oder transparent war, was das Ziel der Woche (oder auch: das Erfahrungsangebot) war, dass nicht besprochen wurde, mit welchen Vorerfahrungen oder Fragen die Teilnehmenden gekommen waren und dadurch, dass die Themen nicht eigenständig vorbereitet und eingebettet werden konnten, war es für die Teilnehmenden nur schwer möglich, aktiv und mitverantwortlich für den Prozess zu sein, der sich in den Kursstunden abspielte.

Als ich jetzt meine Unterlagen von der Fortbildung sortiert und abgeheftet habe - die verschiedenen Kurse haben eine ganz unterschiedliche Quantität und Qualität von Papieren meinerseits hervorgebracht – frage ich mich was geblieben ist und was „effektiver“ hätte verlaufen können.

Zwischen der veralteten Form, dass ein Lehrer vorne steht und seinen Schützlingen das ihnen fehlende Wissen verbal näherbringt – die Teilnehmer nehmen einfach passiv das auf, was ihnen vermittelt wird – und einem lockeren Treffen nach dem Motto: „Wir lassen uns mal auf den Prozess ein und schauen was entsteht!“ - die Teilnehmer gestalten aktiv selber, was geschieht - liegen meines Erachtens viele Möglichkeiten der zeitgemäßen, bereichernden, aktivierenden und nachhaltigen Seminargestaltung.

Für die Lehrenden, diejenigen, die die Didaktik – ihre Lehrkunst – verantworten und die Lernenden, diejenigen, die die Mathetik – die eigene Lernkunst – verantworten, gibt es einiges zu wissen, damit Fortbildungs- und Weiterbildungsprozesse in der Erwachsenenbildung zu einem wirklichen Erlebnis werden und saftige Früchte tragen.

Deshalb nun ein Blick auf Lehrende und Lernende, denn diese beiden „Parteien“ begegnen sich in einem Seminar. Eine Begegnung in der professionellen Erwachsenenbildung bringt immer Haltungen oder Rollen mit sich. Der eine ist Dozent, der andere Student. Als Dozent habe ich andere Erwartungen an eine Lehr- und Lernbegegnung und andere Aufgaben zu erfüllen, als wenn ich Student, der sogenannte Lernende bin. Aber auch dann habe ich Erwartungen. Und Aufgaben zu erfüllen. Aber andere als der Dozent.

Als Teilnehmender bringe ich Vorerfahrungen mit, habe Gründe und Motive für die Fortbildung, kämpfe mit Blockaden und bin, durch persönliche Umstände so oder so gestimmt (um nur ein paar Aspekte zu nennen). Was die beiden aber eint, das ist ihr Menschsein an einem gemeinsamen Ort, aus einem bestimmten Grund und zu einer speziellen Zeit. Und das ist ein wichtiger Aspekt in der Erwachsenenbildung: mitmenschliche Begegnung. Ohne echte Begegnungsfähigkeit werden es alle Beteiligten schwer haben und Fortbildungen auf professioneller Ebene nutzlos.

Des Weiteren gibt es meines Erachtens zwei grundlegende Herangehensweisen, um die sich beide Seiten bemühen sollten: „Selbstlose“ Wahrnehmung und „selbstständige“ Urteilsbildung in Bezug auf die Inhalte, das Thema der Zusammenkunft. Wie schnell mischt sich schon bei der ersten Wahrnehmung ein Urteil ein?

„Selbstlose“ Wahrnehmung bedeutet, dass ich in der Lage bin, Inhalte zunächst ‚sachlich‘ aufzunehmen und in meiner Reaktion zwischen Innen- und Außenschwelle zu unterscheiden.

WAS kommt mir auf inhaltlicher Ebene entgegen und welche Fragen entstehen? Was wird gesagt? Wer sagt es? Wann? In welchem Kontext? Etc. Eine Hilfe ist der Versuch, das Gehörte oder Gelesene zu wiederholen. Nach dieser ersten, äußeren Wahrnehmung entsteht eine zweite, innere Fragestellung.

WIE kommt mir der Inhalt entgegen? Was macht er mit mir, wie reagiere ich auf der Gefühlsebene darauf? Erzeugen die Inhalte Wärme, Verständnis und an welcher Stelle berühren sie mich?

Es scheint mir wichtig zu sein, dass sowohl die lehrende als auch die lernende Seite diese Fähigkeiten der Unterscheidung zwischen Innen- und Außenseite übt. Sympathie und Antipathie sind wichtige Kräfte – besonders dann, wenn bewusst mit ihnen umgegangen werden kann.

Nach der Wahrnehmung kommt die Urteilsbildung. Und auch das ist ein Feld, auf dem es schnell zu destruktiven Zwischenfällen kommt. Worauf gründet sich unsere Meinung, unser Statement, unsere weitere Argumentation? Auf welcher Ebene bewegt sie sich? Können wir darüber sprechen, wie und warum wir zu unseren Urteilen kommen? Was ist überhaupt ein Urteil und wie kommen wir dazu? „Woher“ kommt es? Können wir erläutern und begründen wie wir uns zu dem dargestellten Inhalt stellen? Die „selbstständige“ Urteilsbildung ist eine wichtige Fähigkeit, die dazu beiträgt, offen, ehrlich und überzeugend Sachfragen zu bewegen.

Ein weiteres Feld ist für beide Seiten die tägliche Vor- und Nachbereitung der Seminarzusammenkunft – vor allem dann, wenn das Seminar über mehrere Tage geht. Zum einen gilt es die Aufmerksamkeit auf die bewussten Tagesprozesse zu lenken und zum anderen den oftmals unbewussten Nachtprozessen nachzuspüren.

Der Tag verlangt warme Klarheit. Gute Vorbereitung. Scharfe Urteilsfähigkeiten. Struktur, Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Damit die Teilnehmer zu Mitgestaltern werden, brauchen sie Informationen – und die Möglichkeit sich einzubringen. Eine Seminareinheit will eingeleitet werden, will Raum für Prozesse haben und braucht eine angemessene Ausleitung. Zu einer Rückschau auf das Geschehen kommt die Auswertung hinzu und dann ein Vorblick.

Die Nachtprozesse arbeiten auf einer anderen Ebene. Wenn wir schlafen durchlaufen wir noch einmal das Tagesgeschehen. Und so passiert es oft, dass wir an der Schwelle zwischen Tag und Nacht, an der Schwelle zwischen Wachen und Schlafen Einsichten haben, Fragen oder Antworten bekommen, den Impuls erhalten jemanden anzusprechen oder heute etwas stiller zu sein (um nur ein paar Beispiele zu nennen). Tag- und Nachtlernen gehören zusammen. Ohne die Einbeziehung der unbewussten und dunklen Seite der Nacht, kommt es selten zu fruchtbaren ganzheitlichen Seminarereignissen am Tag.

Begegnungsfähigkeit, selbstlose Wahrnehmung und selbstständige Urteilsbildung sowie die Einbeziehung von Tag- und Nachtlernprozessen scheinen mir sowohl für Lehrende als auch Lernende grundlegende Fähigkeiten und anzuwendende Fertigkeiten zu sein, die sich auf den Ertrag von Fortbildungen maßgeblich auswirken.

Immerhin hat mich die magere Fortbildung, die ich vor ein paar Wochen gemacht habe, dazu verleitet, mir generell über Lehr- und Lernprozesse Gedanken zu machen und diesen Text zu schreiben. Anmerkungen, Ergänzungen und Fragen sind herzlich willkommen!

Samstag, 13. März 2010

Geschichtsschreibung. Für Silke

Als ich an diesem Morgen erwachte, sah ich durch das Fenster den blauen Himmel und den strahlenden Sonnenschein. Und ich wusste es sofort: Damit würde ich heute nichts anfangen können. Die Welt war zu hell. Ich wusste nicht, worauf ich mein Augenmerk da draußen richten sollte. Alles strahlte mir entgegen und die Dinge fanden keinen Widerhall in meinem Innern. Innen und außen ließen sich nicht verbinden. Zudem war die Welt kalt. Es lag Schnee. Überall glitzernder Schnee. Deshalb leuchtete die Welt so unverschämt.

Und ich spürte plötzlich, dass ich froh darüber war, dass die Welt heute so hell war und strahlte, denn dann konnte ich die Welt sich selber überlassen. Als ich unter der Dusche stand, klangen plötzlich Melodien in meinem Innern. Melodien aus einer tiefen Ferne, die ich jedoch sehr gut kannte. Und ich wusste es direkt: da kam eine alte Erinnerung auf. Es war die Musik der „Schmetterlinge“ einer österreichischen politrock Gruppe aus den 70er Jahren.

Über dreißig Jahre ist das her. Und da kommen plötzlich Klänge auf. Melodien, einzelne Worte… Ich sehe Szenen vor mir und kann fast wieder mitsingen. „Wir hatten Gräber und ihr hattet Siege. Wir haben für euch unsere Finger gerührt. Wir fraßen zu lange gezuckerte Lüge, beim falschen Wirt. Wir haben euch eure Kriege geführt. Jetzt führen wir unsere Kriege!“

Die fremden Worte „Père Lachaise“ kommen hoch. Worte, die damals in den Gesängen der aufmüpfigen „Schmetterlinge“ Signalwirkung hatten. Damals. Nie war ich dort, auf dem berühmten Friedhof in Paris. Aber ich habe noch immer die inneren Bilder vor mir, die damals entstanden. Die Erinnerung sitzt offensichtlich sehr tief und irgendetwas bringt sie heute ans Licht.

Die „Schmetterlinge“ waren mit politischer Geschichtsschreibung befasst. Die Gruppe wollte die großen Geschehnisse von unten beleuchten. So heißt ihr Hauptwerk auch: „Proletenpassion“. Es thematisiert die Herrschaftsstrukturen und sozialen Fragen in Europa vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Alle großen Revolutionen werden von unten besungen: Die Bauernkriege, 1500 – 1525. Die Französische Revolution, 1789 – 1792. Die Pariser Kommune, 1870/71. Die russische „Oktoberrevolution“ 1917. Der europäische Faschismus, 1923 – 1945.

Ich sehe die Schallplatten noch vor mir. Eine dunkelrote Sammlung mit mehreren Platten: „Proletenpassion“. Ein einfaches Wort. Aber was bedeutet es? Und wer schreibt eigentlich die Geschichte? Die Herrschenden oder die Unterdrückten? Gibt es wirklich nur diese beiden Kategorien? Und zu welchem Zweck das alles… Das ist DIE Frage, an die ich mich erinnere. Damals wurde alles in Frage gestellt. Noch nicht einmal der Geschichtsschreibung, die mir in der Schule vermittelt wurde, konnte man glauben. Wie war es wirklich?

Die Musik der „Schmetterlinge“ hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Und ich konnte damals jedes Lied mitsingen. Die drängenden Gesänge, in denen Geschichten über die Geschichte erzählt wurden. Von der unterdrückten, armen und schwachen Seite aus. Die „Schmetterlinge“ waren mein großes Vorbild. So wollte ich auch werden. Wirklich verstehen, was in der Welt vorgeht. Und dann Stellung beziehen. Ich bin zu jedem Konzert gegangen. Damals. Im Schauspielhaus Bochum. Das war eine bewegende und bewegte Zeit.

Ich trinke einen Espresso, schaue in die winterliche Landschaft und tauche in die Vergangenheit ein. Ich erinnere mich an meine Jugendfreundin Silke. Damals haben wir viel Zeit miteinander verbracht. Die Erinnerungen an Silke und die „Schmetterlinge“ gehören zusammen. Als wir beide noch Mädchen waren, 14, 15 Jahre alt, da haben wir zusammen gesungen, in der Songgruppe „Trotz alledem“. Wir haben auf Straßen und Plätzen gestanden, im Sommer und im Winter und haben gesungen. Politische Überzeugungen preisgegeben. Wir wollten unsere Mitmenschen aufklären, die Welt verändern.

Zu den „Schmetterlingen“ blickten wir auf. Wie oft haben wir die „Proletenpassion“ wohl gehört? Unzählige Male. Und haben aus voller Kehle mitgesungen. Und Texte und Inhalte einfach hingenommen. Dass man Geschichte von verschiedenen Blickpunkten aus betrachten kann, das haben wir erst später verstanden.

Mit Silke habe ich mir damals auch vorgestellt, was aus uns werden könnte, wenn wir einmal groß wären. Älter wären. Selbstständig und erwachsen. Silke, das dunkle zarte Mädchen, mit den langen Fingern. Geige hat sie gespielt. Und französisch konnte sie sprechen. Sie hat gemalt und gedichtet. Und wir beide haben uns eine Welt vorgestellt, in der es keine Unterdrückung mehr gibt. Keine Atomkraftwerke, keine Startbahn West, keinen Kalten Krieg. Eine Welt, in der das Volk regiert. Und in der wir einen Platz finden und den Menschen erzählen, wie es früher war. Wir hatten große Pläne, viele Ideen und Ideale…

Silke, eine liebe Freundin aus Kinder- und Jugendtagen. Ein paar Jahre später, als wir an verschiedenen Orten studieren gingen, hat sie sich von der Welt zurückgezogen. Irgendwie konnte sie nicht mehr. Schon ganz früh. Sie hat ihren Platz nicht gefunden. Ist krank geworden, psychisch erkrankt. Und das ist sie immer noch. Sie lebt zurückgezogen. Abgeschottet von der Welt. Ganz für sich. Ob sie auch manchmal an unsere gemeinsamen Nachmittage und Wochenenden denkt? An unsere Wünsche und Träume? An die Zeit, als die „Schmetterlinge“ unser großes Vorbild waren? Als wir über alle Revolutionen dieser Erde gesungen haben – immer aus dem Blickwinkel der Unterdrückten? Und der Welt erzählen wollten, wie es wirklich war?

Wie kommt es, dass die Klänge und Worte der „Proletenpassion“ plötzlich hochkommen? Dass innerlich eine Musik erklingt, die ich so viele Jahre nicht gehört habe – geschweige denn an sie gedacht hätte… Wenn die äußere Welt schweigt, dann spricht die innere. Und die eigene Geschichte erzählt sich im Kontext der großen, allgemeinen Geschichte. Unter dem weißen Schnee liegen die Wunden verborgen und geschützt - nicht nur die der Geschichte - und irgendwann wird es wieder Frühling.

Donnerstag, 4. März 2010

Minne und Krasser Scheiß. Worte und Begriffe

Als meine erwachsene, studierende Tochter zu Weihnachten ein Geschenk auspackte, das ihr außerordentlich gut gefiel, entwand sich ihrem Inneren ein großes Kompliment, sie strahlte und sagte: „Krasser Scheiß!“ Und das war ernst gemeint. Sie hat sich wirklich unglaublich über das Geschenk gefreut, das sie in Händen hielt.

Sprache, und damit Worte und ihre Bedeutung, wandeln sich. Das ist offensichtlich. Ich hätte in ihrem Alter und in einer vergleichbaren Situation vielleicht „wow“ oder „cool“ gesagt – und hätte das schon sehr gewagt gefunden. Aber die Konjunktur dieser Worte neigt sich ja schon ihrem stillen Ende zu. Heute stehen andere Begriffe auf dem Plan und wer weiß, welche Buchstabenkombinationen nun auf dem Weg sind, geboren zu werden und sich einen Platz und Rang zu erobern.

Meine jüngere Tochter fragte mich neulich, was eigentlich „Minne“ sei. Mit diesem Wort konnte sie nichts anfangen. Da es aber in ihrer Schullektüre öfters vorkam (…Parzivalepoche…) hielt sie es immerhin für angebracht, sich nach der Bedeutung zu erkundigen. „Minne“ ist kein geläufiges Wort für Liebe mehr, es stammt aus dem Mittelalter. Auch ich kannte es als Jugendliche nicht. Manche Worte muss man also richtig „lernen“ – deren Bedeutung ergibt sich nicht nebenbei oder aus sich selbst. Andere Worte gibt es, die ihre Bedeutung über einen langen Zeitraum behalten oder sich verwandeln. So gehören das Herkunfts- und Synonymwörterbuch zu meinen liebsten Nachschlagewerken.

Als ich den letzten Blogtext von Jelle van der Meulen auf mögliche Fehler durchging (http://jellevandermeulen.blogspot.com/2010/03/alle-groen-worte-brauchen-respekt-uber.html), ist in mir die Frage entstanden, was eigentlich der Unterschied zwischen „Begriff“ und „Wort“ ist. Er spricht in seinem Text von „Worten“. Ich hatte die Neigung, an manchen Stellen das Wort „Wort“ durch den Begriff „Begriff“ zu ersetzen. Und da haben wir es schon. Was ist da richtig? Was ist passend, emergent, evident, einleuchtend, plausibel, überzeugend, schlüssig, nachvollziehbar? (Und das Synonymwörterbuch schlägt noch viel mehr Worte im Umkreis vor!)

Wo unterscheiden sich Worte von Begriffen – wo trennen sich die beiden voneinander, wo überschneiden sie sich, was ist wann gemeint? Das entsprechende Verb zum Begriff „Begriff“ ist „begreifen“. Diese Verbindung hat mir schon immer gefallen, weil ein Geheimnis darin liegt. Wie kann man einen Begriff begreifen – anfassen, berühren, ertasten? Und doch hat ein Begriff etwas von der physischen Ebene. Gemeint ist aber, dass wir einen Begriff mit unserem Verstand – oder unserem Herzen - ergreifen, so dass er einen lebendigen Ort in uns erhält. Der DUDEN sagt, ein Begriff sei der „geistige, abstrakte Gehalt von etwas“. Aha.

Das Wort „Wort“ hat kein zugehöriges Verb. „Worten“ – das wäre schön, aber das gibt es wohl noch nicht. Dafür aber wartet der DUDEN mit einem schönen Bedeutungshintergrund auf. Ein Wort sei das „feierlich Gesprochene“. Im Griechischen verweist „Wort“ auf „sagen“, im Russischen auf „lügen“… Das Instrument beider Worte oder Begriffe ist die Sprache, die wir sprechen. Schriftlich oder mündlich. Ob wir mit Worten etwas sagen oder lügen hängt von inneren Dispositionen ab – das Wort an sich ist nur das Kleid, in dem die Bedeutung erscheint.

Aber zurück: Ist Liebe nun ein großes Wort oder ein großer Begriff? Wer könnte darüber etwas sagen?

Jelle van der Meulen verweist am Ende seines Textes darauf, dass die Quelle eines bestimmten Wortes (Anthroposophie) im Herzen des Menschen läge und die Sprache des Herzens ja bekanntlich die Poesie sei. Diesem Blick möchte ich noch eine andere Perspektive hinzufügen. Walter Benjamin, der sich sicherlich auch als Platoniker bezeichnen würde, hat in seinem Sprachaufsatz geschrieben: "Jede Mitteilung geistiger Inhalte ist Sprache." Das bedeutet, dass gerade dann eine stimmige Sprache entsteht, wenn die Worte und Begriffe einen geistigen Inhalt tragen. Er schaut also aus umgekehrter Richtung. Besonders reich wird die Sprache also dann, wenn sie geistigen Inhalts ist und aus dem Herzen der Menschen heraus gesprochen wird – ganz unabhängig davon, ob Worte oder Begriffe verwendet werden.

In diesem Sinne war auch der Ausspruch meiner ältesten Tochter: „Krasser Scheiß“ wirklich als Kompliment zu verstehen und die Frage meiner jüngeren Tochter, was denn „Minne“ sei, eine echte Frage die aus ihrem Herzen kam. Schließlich sind es die jüngeren unter uns, die die neuesten Nachrichten aus der geistigen Welt mitbringen. Da muss man schon mal über den Schatten von Worten springen und für neue Bedeutungen offen sein.