Freitag, 6. Mai 2011

Entwerfen, behalten und entspringen lassen. Über Zeit

Plötzlich öffnet sich eine Stunde Freiraum. Unerwartet. Und zunächst auch unerwünscht. Diese Stunde besteht nur aus einem Rahmen und findet an einem Bahnhof statt. Sie beginnt unspektakulär und plötzlich, und wird 58 Min. später enden, wenn der nächste Zug fährt. Sie kann es nicht ändern. Der Unmut verfliegt. Innen ist die Stunde offen. Frei. Nicht festgelegt. Es ist ein lauer Abend, warm und wohltuend.

Sie könnte sich zum wiederholten Male über die Deutsche Bundesbahn erzürnen, die einen Anschlusszug nicht warten lässt. Sie könnte 58 Minuten lang auf dem Bahnsteig auf und ab gehen. Sie könnte poltern, innerlich und äußerlich – aber sie kann es auch lassen.

Möglich wäre es, die Arbeit fortzuführen. Oder sie könnte zurückblicken, schauen, welche Ereignisse der letzten Zeit ihr Herz erreicht haben, was davon in ihren Händen liegt und was vielleicht hinter ihr verloren gegangen ist. Oder sie könnte ein Buch lesen – einen Roman. Versuchen in eine andere Welt abzutauchen. Könnte träumen. Telefonieren. Sich in ein Cafe setzen und ein Glas Rotwein bestellen.

In der Abendsonne sitzend, denkt sie an einen Satz von Walter Biemel: „Menschliche Existenz verwirklicht sich im Entwerfen der Zukunft, im Behalten des Gewesenen und im Entspringenlassen der Gegenwart“. Nun ist sie gefragt. Dieser Satz gefällt ihr schon lange. Abstrakt klingt er gut. Wie aber lässt er sich herunterbrechen? Was lässt sie ihrer Gegenwart entspringen? Jetzt, unmittelbar? Wie geschieht so etwas? Wie gestaltet sie die Stunde, die Minuten, die noch übrig sind? Welche Bedeutung hat sie für ihre Existenz in diesen Minuten?

Sie kann es nicht fassen. Nicht konkret denken. Es geschieht. Sie lässt sich hineingleiten. Der Prozess setzt weich ein und sucht sich seinen Weg durch die steinige Landschaft. Etwas bewegt sich. Die Zeit nimmt ihren Lauf. Sie wird ruhiger, Gedanken kommen und gehen, manchmal schaut sie Passanten nach, sie spricht mit einem guten Freund, macht sich Notizen, isst etwas. Sie lässt los. Zeit vergeht.

Sie öffnet die Bühne für die vergehende Woche und erblickt Momente. Denkt an einige Ereignisse, Gespräche, Vorkommnisse. Sie versucht die Dinge chronologisch zu erinnern und gleitet immer wieder ab. Sie gibt auf und lässt sich von einem inneren Strom mitnehmen. Manchmal kommt sie zurück, erblickt das Ufer. Was sie vergisst, weiß sie nicht. Urteile werden nicht gefällt. Bild nach Bild erscheint. Sie ist müde.

Das „Behalten des Gewesenen“ passiert ungeordnet. Da ist etwas. Ja. Aber sie hat nicht die Kraft scharf darauf zu schauen. Zeitränder einzukalkulieren, Bewertungen durchzuführen, klar zu denken. Der Kopf schaltet sich aus. Die Füße laufen nicht mehr. Sie sitzt und fühlt. Gefühle erwachen.

Wenn es ein “Entwerfen der Zukunft“ gibt, dann geschieht das auf geheimen Wegen. In diesem Zustand lässt sich bewusst nichts planen – und doch wird ein neuer Tag kommen. Und das „Entspringenlassen der Gegenwart“? Ist es das, was geschieht, wenn wir etwas geschehen lassen? Ein Geschehen geschieht. Es entspringt dem Moment. Wie ein Springbrunnen – mal groß, mal klein, mal geordnet, mal chaotisch, gesteuert oder fließend… – und er schenkt sich dem Moment. Ohne Vergangenheit, ohne Zukunft.

Ihr Zeitfenster beginnt sich zu schließen. Sie muss auf den Bahnsteig – wenn sie den nächsten Zug erwischen will. Dankbar und etwas irritiert blickt sie zurück. Und sie nimmt sich vor, jede Woche 58 Minuten zu reservieren. Um dem Nachzuspüren, was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet. Was es zu „behalten“ und zu „entwerfen“ gibt und was „entspringen“ will.

1 Kommentar:

  1. Schöne Formulierung!

    Hier ein Lied dazu:

    http://www.youtube.com/watch?v=iEVpvNuwg9Q&playnext=1&list=PLDC8622AD5418D88E

    [Clueso "Zu schnell vorbei"]

    Maiengrüße von Katharina

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