Und seit einer Woche schaue ich mir die Welt aus doppelter Perspektive an – so gut das einer Platonikerin gelingt… Wenn sie genau hinschauen muss, wenn sie zwei- oder dreimal so lange vor einem Kunstwerk stehen bleibt, wenn sie ins Detail geht. Wenn sie nicht von oben, sondern von unten schaut. Wenn sie nicht nach den Sternen, sondern nach den Dingen greift. Die Aristotelikerin in mir spricht eine andere Sprache. Und es ist schon wahr, die Platonikerin ist die arrogantere und überheblichere der beiden.
Und weil die Welt aus der Sicht von Platonikern und Aristotelikern so ganz anders aussieht, ist kaum vorstellbar, dass die beiden über die gleichen Dinge reden. Ja, die Dinge. Was für den Platoniker groß und weit ist, ist für den Aristoteliker klein und fein. Er kann „die Dinge“ in sich aufnehmen und gleichzeitig „zum Ding“ werden. So wie Walter Benjamin, der die kleinen und feinen Dinge in seinem Alltag sprechen lassen konnte. Da wird von einer Nähspule berichtet oder von einem Ornament an einer Haustür…
Aristoteliker sind im positivsten Sinne kurzsichtig, sie nehmen Farben, Formen, Gerüche und kleine Nuancen wahr, während der Platoniker in die Ferne schweift. Da wo er die Dinge mit seinen Gedanken umarmen kann, ist der Aristoteliker tatsächlich vor Ort. Das visuelle, auditive, haptische Erlebnis zählt für ihn. Und das im Hier und Jetzt. Und zwar nur im Hier und Jetzt. Die Unmittelbarkeit, die einzelnen Momente werden geheiligt, Zeit und Raum werden ihm zum Tempel – und wenn es nur für Minuten ist.
Neue Blickwinkel werden in vertrackten Situationen von Aristotelikern eingebracht. Sie vermögen es, sich drei Zentimeter weiter nach links oder rechts zu bewegen und von dort zu schauen. (So etwas hält ein Platoniker nicht einmal für denkbar, wenn er sich bewegt, dann gleich Hunderte von Metern…) Und weil die Aristoteliker so unbefangen aufs Detail schauen, sind sie auch die besten Chirurgen. Materie ist ihnen vertraut, sie nehmen sie unbeschwert hin – schauen so, als wenn sie etwas zum ersten Mal sehen…
Das Schicksalsnetzwerk des Aristotelikers ist genauso groß wie das des Platonikers. Die Bedeutung der Beziehungen ist aber eine ganz andere. Wo der Platoniker nach einem langen Leben fünf Namen nennt, kommt der Aristoteliker kaum an ein Ende seiner Aufzählung. Für ihn gelten andere Gesetze. Er hat unendlich viele Freunde – und jeden für einen anderen Bereich seines Lebens. Für den Aristoteliker hat jeder Freund einen eigenen Ort in ihm, eine spezielle Bedeutung, einen besonderen Anknüpfungspunkt.
Es scheint mir relativ einfach zu sein, den Unterschied zwischen Platonikern und Aristotelikern durch ihre scheinbare Gegensätzlichkeit sichtbar machen. Im Grunde genommen geht es ihnen aber um die gleiche Sache. Sie wollen in Raum und Zeit leben und zwischen Geburt und Tod die Erde durchstreifen, ergreifen und vergeistigen. Der Platoniker trachtet dabei danach, seine große Vergangenheit in die Zukunft zu transportieren. Und der Aristoteliker versucht die große Zukunft schon aus der Vergangenheit heraus zu beschreiben.
Die beiden treffen im Hier und Jetzt aufeinander – und nur dort. Wenn dieses Treffen nicht am Abgrund geschieht, dann gehen sie locker aneinander vorbei. Wenn sie sich aber an der Kante treffen, dann wird das Leben für beide neu, anders, aufregend. Es kann unerträglich werden, weil sie einander nicht trauen. Aber es kann auch ein Fest werden, denn sie sind so unterschiedlich wie nur etwas und brauchen einander darum so sehr, um dem materiellen Dasein etwas abzugewinnen.
Puh… geschafft. Ich muss gestehen, es ist nicht leicht, aus der Perspektive eines Aristotelikers zu schreiben, ja fast nicht möglich. Für eine weitsichtige Platonikerin ist das Detail ein Stolperstein, über den sie leicht und locker und schnell hinweggehen möchte, bevor sie den blauen Fleck am Fuß genauer untersucht und die Äderchen zählt, die nun hervortreten. Vielleicht können Platoniker tatsächlich etwas lernen, wenn sie mit einer aristotelischen Brille durch den Tag wandern, das Angebot muss allerdings stimmen, sonst schaut sich der Platoniker nach einer größeren Idee um.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
weitere Texte über Platoniker und Aristoteliker: www.jellevandermeulen.blogspot.com
AntwortenLöschenHerzlich!
Liebe Sophie, lieben, lieben Dank für deine Texte diesen hier finde ich geradezu brilliant! Wie ich bei Jelles Blog kommentierte ist für mich nun ein grosses weitreichendes und tiefgreifendes Thema zur Ruhe gekommen. Zur Ruhe gekommen natürlich nur so weit, dass es weiter, vielleicht zu neuen Ufern trägt. Ich bin eine Aristotelikerin mit einer kleinen Dioptrie an Weitsichtigkeit und mit zunehmendem Alter wird das stärker, freue mich auf Zukünftiges und Weiters von dir zu lesen.:) Ciao Andrea
AntwortenLöschenLiebe sophie,
AntwortenLöschenschön mal wieder von alten Bekannten zu lesen (W.B.). Das war heute mein Sonntagsgeschenk an mich. Ich danke dir für den schönen Text. Werde jetzt mal sinnieren ob ich eher Zu Platon oder zu Aristoteles neige. Ich wünsche dir eine gute Woche L.G. von elfriede
Schön, das "PUH"...Wie schön, das "andere" beschrieben zu lesen. Und wieviele Zwischenwege und Zwischenseins gibt es und wie viele Hin-und Herneiungen zwischen beiden Polen...Vielen Dank !
AntwortenLöschenAnna
Aristotleles würde sagen, das die Gewohnheit zum guten Charakter führt - es besteht also noch Hoffnung für die Platoniker unter uns! (VCM)
AntwortenLöschen...und wenn es noch eine 3. Sicht auf die Dinge gibt!?
AntwortenLöschenFragen kommen wieder herauf beim Lesen Deines Textes Sophie. Was passierte in der Zeitenrechnug im Jahre ~ O ~ . Menschen die leibhaftig anwesend waren und in der Begegnung „Mit dem reinen Wort“ eine Veränderung ihres Wesensgefüge ( oder Sicht der Dinge) erlaubt haben... Wie gehen diese Menschen mit der neuen Zeit um ? Nähe und Weite abwechselnd sprechen lassen...mißverständlich oft für die Umgebenden? ...oder für die verschiedensten Menschen Ansprechpartner? ...oder beides?
Alles Gute für die Adventszeit!
Katharina