Samstag, 4. Dezember 2010

Taubenblau und Morgenrot. Sie und Er

Sie stieg an einem taubenblauen Nachmittag, dessen Farbe sich langsam ins Gräuliche verwandelte, aus dem Zug. Das letzte Sonnenlicht des kurzen Tages rang noch mit den Wolken, die sich kräftig in den Vordergrund schieben wollten. Es war die Stille vor einem Gewitter, die jeden Schritt gewichtig erscheinen ließ. Sie wandte sich westwärts, um die Glut am Himmel, so sie denn erscheinen würde, nicht zu verpassen. Wer würde siegen, die letzten Sonnenstrahlen oder die ersten Regentropfen? Hinter ihr lagen die Stunden der Reise, vor ihr die der Begegnung. Sie schlang ihren grauen Schal mehrmals um sich und blickte mit ihren blauen Augen in die bekannte Richtung.

Er war in der ersten Morgenröte am Flughafen angekommen. Der Himmel schien noch unberührt und es war sichtbar, dass die Vögel ihre Freiheit genossen. Es war noch Nacht gewesen, als er aufgestanden war, nun war er froh, dass ihn das Licht des Tages langsam umschlang. Er genoss es, den Vögeln am Himmel zuzuschauen, wie sie ihre Kreise zogen und ihre Flüge weiter werden ließen. Er selbst fühlte sich elend, mit seiner Tasche in der Hand und dem Hut auf dem Kopf. Es würde eine Tortur werden. Aber er war bereit. Tief sog er die Luft in seine gemarterten Lungen, bevor er das Flugzeug bestieg, das ihn in die alte Heimat bringen würde.

Sie lief ohne ihr Gepäck durch die alten Straßen. Sie hoffte, dass sie noch eingelassen werden würde. Die Öffnungszeiten waren ihr nicht geläufig. Sie kannte die Anlage nur aus der Zeit, als darin noch gelebt wurde. Als es noch ein Jetzt gab, eine lebendige, arbeitsame und harte Gegenwart. Als sich die Zeitströme noch bewegten, die Zukunft sich der Gegenwart immer wieder aufs Neue näherte und sich durch sie gebären und befeuern ließ, bevor sie zur Vergangenheit wurde. Nun gab es nur noch den Rückblick – den Blick zurück. Alles war Vergangenheit geworden, die Gegenwart längst gestorben und die Zukunft unerreichbar fern. Das mittelbare Leben hatte aufgehört, die Anlage entblößte ihre Gemäuer für Besichtigungszwecke – gegen ein geringes Eintrittsentgelt.

Er schlief nach dem Start des Flugzeugs ein. Wirre Träume durchdrangen sein Inneres. Ihm wurde schwindelig davon. Als er erwachte wusste er, dass er eine wichtige Mitteilung bekommen hatte. Wie konnte er sich daran erinnern, was war es gewesen? Panik überkam ihn. Er blickte sich um und sah die Mitreisenden an. Keinen von ihnen hatte er je vorher gesehen. Er hatte sein Zeitgefühl verloren und er wusste nicht, wo er war. In diesem jämmerlichen Zustand, den er auf seine Gedankenlosigkeit schob, schloss er die Augen wieder, um vor der Vergangenheit und der Zukunft in einen weiteren Traum zu fliehen.

Sie…

Er…

Taubenblau und Morgenrot.

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