Samstag, 18. Dezember 2010

Fügung. Öffnung im Dunkeln

Die Zeit vor Weihnachten ist weder von Ruhe noch durch besonders viel Besinnlichkeit geprägt. Anna versucht trotzdem in ihrer Mitte zu bleiben, aber sie spürt, dass sie schwankt, manchmal verliert sie den Überblick. Der Felsen in der Brandung ist zu einem wankenden Pfeiler im Wind geworden. Wenn sie die Augen schließt, spürt sie ihre Müdigkeit, ihre Traurigkeit, ihre Verlorenheit – zwischen all dem, was zu tun ist.

Gewöhnlich fällt sie in einen tiefen Nachtschlaf und erwacht nur durch einen schrillen Wecker in der Dunkelheit. Dieses Mal aber erwacht sie plötzlich, mitten in der Nacht – von sich aus – und es ist sehr finster um sie herum. Innerlich aber erahnt sie unmittelbar das Licht, das kleine, das da leuchtet. Sie spürt die Wärme ihres Körpers, hört ihr Herz klopfen, fühlt sich leicht und frei. Kurz bevor sie sich wieder umdrehen will um weiterzuschlafen, entscheidet sie sich wach zu bleiben.

Gegen die mahnenden Worte ihres Kopfes, der sich einschalten will und rationale Warnungen produziert: Sie solle schlafen, sich ausruhen für den kommenden Tag, Kräfte generieren, eben SCHLAFEN. Aber Anna ist wach. Und sie nimmt das an. Sie liegt ganz still und spürt, wie sich ihr Herz öffnet. Sie lauscht auf die Melodien der Nacht. Klingende Worte.

Die Nacht schenkt ihr also eine Freistunde, sie bekommt Urlaub – von ihrem Nachtschlaf – und nimmt das zögernd an. Sie erlebt den offenen Raum, der ihr gereicht wird und tritt in ihn ein. Sie steht auf und stellt sich ans Fenster. Es ist winterlich. Kalt. Und die Sternenfülle leuchtet warm und kalt am nächtlichen Himmel. Licht und Finsternis – so nah zusammen. Genauso wie die Leere und die Fülle, die sie gleichzeitig in sich spürt. Die Ruhe und der Auffuhr, die Bewegung und das Innehalten.

Schwierig wird es immer dann, wenn die Gegensätze miteinander ringen, wenn sie sich von ihrer Gegenseite angegriffen fühlen. Um ihren Platz, ihre Souveränität kämpfen. Wenn die gegenseitige Anerkennung ausbleibt. Ohne Licht kein Schatten, ohne Schatten kein Licht. Das lässt sich denken. Welche Gefühle entstehen aber, wenn diese Weisheit nicht gedacht, sondern erlebt wird?

Anna spürt, wie sie innerlich weiter wird, sich ausdehnt. Sie steht noch immer am Fenster, ganz still. Und sie nimmt Anteil an der Vergangenheit und an einem Hauch der Zukunft, sie fühlt den Zeitstrom. Und spürt plötzlich, dass sie zu einem kleinen Stern wird. Sich einklinkt. Mit dazugehört. Still laufen ihr die Tränen die Wangen hinunter, kleine Sterne auf die Erde.

Menschen erscheinen auf ihrer Herzinnenseite. Und sie spürt, wie sich ihr Schicksalsnetzwerk in ihr zu regen beginnt – obwohl die Menschen alle an irgendeinem Ort schlafen werden, träumen… vermutlich. Oder gibt es noch jemanden, der jetzt wach ist? Den Sternenhimmel betrachtet? So wie sie - und sich von seinem eigenen Herzen erobern lässt?

Wie Sternschnuppen kommen die Worte. Fügen sich. Und fügen sie. Ganz so, wie es Anna aus einem Gedicht von Erich Fried kennt. Und sie dankt, ja wem?, vielleicht sich selbst – für diese nächtliche Stunde, allein, am Fenster mit dem winterlich kalten Sternenhimmel, der sie wieder zusammenfügt.

Fügungen

Es heißt
ein Dichter
ist einer
der Worte
zusammenfügt

Das stimmt nicht

Ein Dichter
ist einer
den Worte
noch halbwegs
zusammenfügen

wenn er Glück hat

Wenn er Unglück hat
reißen die Worte
ihn auseinander

Erich Fried

3 Kommentare:

  1. Danke für deine Bilder die das Leiden viel schöner macht als sie ist.
    Josiane

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  2. Erich Fried ist einer der Dichter, die das Prosagedicht im deutschen Sprachraum salonfähig machten.

    Ich habe ihm für meine eigenen lyrischen Sprachschöpfungen viel zu verdanken.

    Weihnachtliche Grüße

    Michael Heinen-Anders

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