Auch der zweite Landeversuch missglückte. Mitten in einer finsteren Regenwolke begann das Flugzeug plötzlich und kraftvoll wieder nach oben zu ziehen. Der Pilot meldete sich entschuldigend und bekräftigte, dass keine Gefahr drohe, irgendwie würden sie schon auf festem Boden landen, die Gewitterwolke über Florenz sei augenblicklich aber so undurchdringlich, so dass er seine Fluggäste nun nach Pisa fliegen und dort sicher zu Boden bringen würde.
In Pisa strahlte die Sonne und es dauerte eine Weile bis Anna sich orientiert hatte. Auf den Bus zu warten schien ihr zu viel Zeit in Anspruch zu nehmen, also suchte sie den Bahnhof und machte sich mit dem Zug auf den Weg nach Florenz. Mit vier Stunden Verspätung erreichte sie die Stadt am Arno und lief mit ihrem Koffer durch die Stadt. Den ersten Espresso ließ sie sich langsam auf der Zunge zergehen. Sie war angekommen. Ihr herrschaftliches Appartement lag direkt am Dom und dem Baptisterium in der Via Roma. Maria erwartete sie schon.
Nun war sie also da. Wieder einmal. In der alten Stadt. Die Vergangenheit ist allgegenwärtig und ragt in die Gegenwart. Anna sah aus den Fenstern, jeder Blick bot ihr eine andere Perspektive auf die prächtigen Gebäude. Schon seit langem waren die Autos aus dem Zentrum verbannt worden und so lag der Platz still vor ihr. Hin und wieder wurde er von einem Taxi oder einem kleinen Lieferwagen durchkreuzt, die Stimmen der Menschen hörte sie bis in den 4. Stock kaum. Sonne und Wolken wechselten einander ab. Die Steine schwiegen und spiegelten durch ihre glänzende Nässe das Geschehen in der Vertikalen.
Mit Maria, einer stolzen Florentinerin, trank sie den zweiten italienischen Espresso, bevor sich beide auf den Weg machten. Aber wo wollte sie eigentlich hin? Die Luft war frisch, nach dem Regen, und überraschend warm. Die abendliche Dunkelheit legte sich sanft über die Stadt, die Ladenbesitzer entzündeten ihre Lichter. Die vielen kleinen Schaufenster leuchteten hell und einladend, Straßenmusik war an jeder Ecke zu hören. Hier gehört die Nacht zum Tag. Die Straßen bleiben bevölkert und das Leben geht weiter.
Die steinerne Stadt gibt Heimat. Sie steht still und ehrwürdig da, präsentiert sich als Mahnmal für all diejenigen, die hinschauen. Die Fassade der Kirche San Lorenzo ist seit fünfhundert Jahren unvollendet – und das bleibt sie wohl auch. Aber wohin richtet die Stadt ihre Aufmerksamkeit? Wovon spricht eine unfertige Fassade? Der Dom, von oben gesehen wie ein großes Schiff aussieht, steht still und erhaben da. Das Dante-Haus, das Kloster San Marco, der Palazzo Medici, Palazzo Vecchio und viele Gebäude mehr. Alle sind da und harren aus.
Das Leben war kurz - damals. Lorenzo wurde dreiundvierzig, Poliziano vierzig, Pico nur einunddreißig. Warum starben sie innerhalb von kürzester Zeit? All dies geht Anna durch den Kopf, sie fühlt sich beteiligt. Und sie erinnert sich, dass nur Marsilio Ficino die anderen überlebt hat, er wurde knapp sechsundsechzig Jahre alt. Die Lebensdauer betrug vor fünfhundert Jahren etwa die Hälfte unserer Lebenserwartung heute. Und doch hat man gerade damals mit einem langen Leben gerechnet, sich auf die Zukunft ausgerichtet. Häuser und Paläste wurden für Generationen gebaut. Für Jahrhunderte. Nein, damals war die Zeit nicht so kurzlebig wie heute, wo jeder, wenn überhaupt, nur noch die eigene Lebensdauer ins Visier nimmt.
Die Palazzi wären auch heute noch bewohnbar. Es ist bekannt, wer wo gewohnt hat, was damals an welchem Ort stattgefunden hat. Anna wandert mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die engen Gassen und über die prächtigen Plätze. Sie ist hier zuhause und doch fühlt sie sich einsam wie selten sonst im Leben. Touristen aus aller Welt laufen mit ihren blitzenden Fotoapparaten an ihr vorbei, überall wird an die glorreiche und wechselvolle Geschichte der Stadt erinnert. Man prahlt mit den alten Meistern: Michelangelo, Leonardo, Raffael und vielen, vielen mehr. Aber sie sind alle tot.
Damals waren die Gebäude belebt. Menschen gingen ein und aus, sie lebten, stritten, hofften und bebten darin. Dramen spielten sich ab, sogar Morde fanden statt. Vor zwei Jahren grub man Picos und Polizianos sterbliche Überreste aus, um zu untersuchen, ob die Gebeine etwas über ihre Todesursache verraten. Die Geschichte dauert also an, auch nach fünfhundert Jahren noch. Heute stehen die meisten Palazzi verlassen da. Sie stehen und stehen und warten und warten – und dürfen nur noch besichtigt werden. Aufsichtspersonal und Carabinieri scheinen in der Renaissance-Metropole sichere Posten abzugeben.
Anna durchstreift die Stadt mit einem Blick nach hinten. Damals. Das Verhältnis zwischen Stadt und Land scheint gut zu sein. Kein Baum und kein Tier sind weit und breit zu sehen in der steinernen Stadt – das wird wohl damals auch schon so gewesen sein. In der Markthalle aber, da wird die Pracht der Natur, Früchte und Gemüse in jeder Form, Fleisch, Fisch und Käse vor ihr ausgebreitet. Alles ist zu haben, was sich vorstellen lässt.
Der Humanismus hat damals Fuß gefasst. Marsilio Ficino hat Platon übersetzt – als erster. Als er dreiunddreißig Jahre alt wurde, war er mit dieser Aufgabe fertig. Die Texte haben fast zweitausend Jahre darauf gewartet. Eine lange Zeit. Anna versucht nach vorne zu schauen, über die Toten in ihren alten Gräbern hinaus. Was kommt aus der Zukunft auf sie zu? Auf Florenz zu? Und noch einmal: woran erinnert die Stadt, womit mahnt sie? Wo will sie hin?
Die Steine ertragen die Schritte der Menschen. Bis sie abgenutzt sein werden, wird es noch lange dauern. Auch das Wasser fließt noch, der Arno – und auch er wird weiterfließen. Anna hat das Gefühl in die Vergangenheit zurück gezogen zu werden. Es war eine intensive Zeit damals. Maria, ihre Freundin und geborene Florentinerin, weiß fast nichts davon. Sie lässt sich staunend in die Kirche Santa Maria Novella mitnehmen und hört gebannt zu, als Anna erklärt, wer welche Figur ist, die da an die Wand gemalt wurde. Wird es noch weitere eintausend fünfhundert Jahre dauern, bis wieder einer in Florenz aufsteht, um zu übersetzen, was die Altvorderen zu sagen hatten und damit in die Zukunft weist?
Anna ist (zu) früh gekommen. Sie nimmt das Schweigen aus der Stadt mit und trägt es still in sich. Die alten Freunde von damals sind nicht vergessen. Sie leben so lange auf der Herzinnenseite weiter, bis sie sich wieder nach außen kehren dürfen, bis die Steine sich öffnen und für diejenigen anfangen zu sprechen, die bereit sind darauf zu hören.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
Durch die Luft in die Vergangenheit. Freude, Sehnsucht, Einsamkeit, Erinnerungen, Schweigen, Erwartungen. Freunden die schweigen und alte Steinen die sprechen.
AntwortenLöschenGute Reise Sophie in die Zukunft. Habe den Espresso auf meine Zunge geschmeckt.