Gestern Nacht bin ich an der Stelle vorbei gefahren, an der dich deine irdische Lebenskraft verlassen hat. Dort, an der Autobahn-Tankstelle hat sich auf dem Weg zwischen Kasse und Zapfsäule dein Tod in Sekundenschnelle ereignet. Du bist zu Boden gesunken und in den Himmel aufgestiegen. Man hat sich unmittelbar um deinen Leib bemüht, versucht ihn wieder mit Lebenskraft zu erfüllen – aber du warst bereits in die Geistigkeit eingekehrt.
Jetzt bist „du“ in der geistigen Welt. Und jeden Tag frage ich mich, wie es sich dort eigentlich wirklich verhält, wie ich mir dein Sein dort vorzustellen habe. Während ich hier auf der Erde mit meinem Tagesgeschäft ringe: schlafen, essen, mich warm halten, Menschen begegnen, Gespräche führen, Aufgaben erledigen, Ideen ergreifen, Zielen folgen – schlicht, mein tägliches Leben zu organisieren, weilst du in geistigen Sphären, von denen ich nur ahnen kann, was sie ausmachen.
Es heißt, dass die Geburt in der geistigen Welt mit einem blitzartigen Panorama-Rückblick auf das irdische Leben begänne. Danach folge eine etwa dreitägige Rückschau auf das beendete Leben mitsamt dem Erleben der Folgen, die die eigenen Taten auf Mitmenschen, Erde und Gesamtzusammenhänge hatten. Nach dem Ablösen von der Erde, den Menschen und Aufgaben folge dann eine Zeit – man sagt, dass sie etwa ein Drittel der Lebenszeit ausmacht – in der das zurückliegende Leben verarbeitet werde.
Für die Verarbeitung, so heißt es, durchschreite man die Planetensphären nacheinander und komme dann in die Weltenmitternachtssphäre. Dort scheint der Umschlagpunkt zu sein, in dem das Vergangene zum Zukünftigen wird. (Den Begriff der Gegenwart scheint es in der geistigen Welt nicht so zu geben, wie wir ihn hier auf der Erde benutzen. Dort ist alles und nichts Gegenwart – der Zeitstrom wird aus der Vergangenheit geboren und verschmilzt gleichzeitig mit dem, was wir Zukunft nennen.)
Die Weltenmitternachtsstunde scheint ein Ort der Dunkelheit und des Lichts gleichzeitig zu sein, der Vergangenheit und Zukunft, der Kälte und Wärme – der Ziele, Aufgaben, Verabredungen und vor allem ein Ort eines großen JA der Entwicklung der Menschheit gegenüber. Dort „trifft“ man sich nach der langen Zeit der eigenen Verarbeitung. Dort werden Pläne geschmiedet, Treffen verabredet, Initialzündungen verankert, bevor sich der Einzelne wieder allein auf den Weg gen Erde macht.
In der geistigen Welt können aber keine Bücher gelesen werden. Es wird weder Deutsch, noch eine andere irdisch bekannte Sprache gesprochen. Es gibt Formen, aber keine Farben, möglicherweise aber Klänge. Es gibt keine Individuen, aber konzentrierte Ich-Einheiten (oder so etwas). Es gibt keine Privatsphäre und keine Geheimnisse. Alles ist offenbar und geht ineinander über. Man kann dort sehen und erkennen, und auch fühlen – aber nichts tun. Erfahrungen machen können wir, so heißt es, nur im irdischen Leben, nur dann, wenn wir physisch inkarniert sind.
Dadurch wird auch erklärbar, warum der Schmerz bleibt, die Sehnsucht, das Vorhaben. Nichts kann uns dort oben von dem ablenken was wir erleben – denn es kann nichts geändert werden. Dafür muss sich eine Individualität erst wieder auf den Weg zur Erde machen. Zu den Menschen, die vielleicht noch da sind, oder die wiederkommen, zu den angefangenen Projekten, den Vorhaben und Zielen. Die geistige Welt bietet eine Überschau – keinen Handlungsspielraum. Und das alles werden wir auf der Erde wieder vergessen.
Darum beginnt nach der Phase in der Weltenmitternacht auch der Abstieg durch die einzelnen Planetensphären wieder. Saturn, Jupiter, Mars und die Sonnensphäre werden durchschritten und darauf folgend – schon ganz nah an der Erde – die Sphäre von Venus, Merkur und vom Mond. Auf dem Mond, so heißt es, werden die unverdauten Päckchen aus dem letzten Leben wieder aufgegriffen und in eine neue Inkarnation mitgenommen. Das erklärt die zwischenmenschlichen Ecken und Kanten auf die wir im Leben treffen können.
Dieser Weg scheint Sinn zu machen. Der Gedanke der Einbettung schenkt Vertrauen in größere Zusammenhänge. Aber ich fühle mich abgeschnitten davon (und gleichzeitig „weiß“ ich, dass ich „dabei“ bin). Wenn ich an dich denke, dann spüre ich, dass ich im irdischen Erleben gefangen bin, dass die Weite eng wird, die Größe klein und das Ja zu einem Vielleicht. Ich ringe damit, das Geistige im Irdischen zu finden, Ja zu dem zu sagen, was in der Weltenmitternachtsstunde „ausgemacht“ wurde. Du fehlst hier.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin