Semai trägt ein weißes Kleid. Sie steht und lauscht. Ihr Leben liegt heute vor ihr wie ein vergessener Parkplatz an einem endlos dahin kriechenden Sonntagnachmittag. Die Schottersteine stauben der Sonne entgegen. Die Ziele von gestern und heute sind erreicht, die Vorhaben durchgeführt, die Visionen von der Bühne verschwunden, es gibt nichts zu tun. Ein paar Nachwehen mögen sich noch zeigen, ein paar Worte wären noch zu sagen, einige Bewegungen zu machen, aber der große Wurf ist zu ihr zurückgekommen, der Horizont klopft an ihr Herz.
Was vor ihr liegt ist der offene Raum, den Mural möglich gemacht hat, ist der blaue Himmel, ist die Weite des Meeres, die Tiefe der Ferne, ein strahlender Glanz. Darin angekommen hat sich die Frage der Fragen aufgerichtet, sie hat sich in gleißendem Licht gezeigt, sie steht da, messerscharf wie eine Eins und doch sanft wie ein Löffel Mousse au chocolat. Ungewöhnlich ist nur, dass sie nicht durch ein Fragezeichen, sondern von einem Ausrufezeichen abgerundet wird. Handelt es sich eigentlich um eine Antwort?
Die Falten ihres täglichen Lebens haben etwas freigegeben und die Welt schweigt dazu. Semai ist bereit den Schritt ins Morgen zu tun, den Weg ihres Schicksals zu gehen – ohne Wissen, Worte und Willensintentionen. Jeden Abend geht der Mond auf, Sterne funkeln am Himmel, wenn sie nicht von den Wolken des Lebens verdeckt werden, aber die große nächtliche Finsternis trägt die Nacht, sich selbst beruhigend von Stunde zu Stunde. Und dennoch: Die Frage hat in Semais Lebensquell ein Feuer entzündet. Sie brennt, ja sie lodert an der Herzinnenwand.
Semai lauscht und atmet tief. Sie spürt deutlich, dass auch die Dämonen beginnen sich an die fragenden und zugleich antwortenden Worte heranzuschleichen, dass sie die reinen Worte einzuhüllen versuchen, schlangengleich ihren Klang zu ihren Gunsten ändern wollen. Sie versuchen sowohl eine Fährte in die Finsternis, in die dunklen Einzelzellen des Lebens zu legen als auch auf die Felder einer rosaroten Glückseligkeit, auf den brüchigen Thron des Scheins der Einzigartigkeit.
Das Cafe an der Straßenecke bildet die Kulisse für die Worte, die aus Raum und Zeit herausfallen. Schicksalsfäden greifen ineinander, Illusionen platzen. Das Bewusstsein ist groß, hell und nicht zu trügen. Sie braucht Mut, Zuversicht und das Vertrauen, dass die Worte sie weisen werden. Alte Weisheiten winken: Nicht der Kopf lenkt und leitet – sondern das Herz führt durch die Wege des Lebens. Auch wenn es unbequem ist. Innehalten. Die fragenden Worte aushalten, warm halten, offen halten. Den Drang der Antwort anhalten, bedeckt halten, geheim halten und irgendwann zu ihr stehen, sie zeigen. Dann durchhalten, treu sein, dem Zweifel die Stirn bieten, und immer: dabei bleiben.
Semai steht am Anfang. Oder am Ende. Oder mittendrinn. Sterben heißt wiedergeboren werden. Ist die Kante, an der sie steht das Ufer ihres Lebensflusses? Oder steht sie in der Weite eines bereits abgeernteten Feldes, das auf neue Saat wartet? Ist ihr Platz die Spitze eines erklommenen Berges, der sie nur noch Himmel sehen lässt und nicht weiter nach oben führt? Oder steht sie gar auf einer Verkehrsinsel einer großen Kreuzung an einem Freitagnachmittag, wenn sich die Ziele der Autos durchkreuzen? Sie weiß es nicht. Gestern und morgen verschwimmen im Heute. Spuren und Ahnungen verbinden sich im Licht des gleißenden Nachmittags. Das Mysterium des Lebens beginnt einen neuen Akt.
Mural ruft Semai bei ihrem Namen und fordert sie auf zu singen.
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