Sonntag, 23. September 2012

Die Herrlichkeit des Lebens. Jedes Jahr aufs Neue


„Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie beim richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft.“ Franz Kafka, Tagebücher, 1921.

Es ist wie jedes Jahr und doch immer wieder neu. Der Moment ist da, in dem sich der Sommer dem Herbst übergibt. Manche Tage sind noch von der Wärme der hellen Tage erfüllt, Altweibersommer genannt, und sie trügen die Annahme, dass uns der Sommer erhalten bliebe. Andere Tage hingegen neigen sich schon der herbstlichen Kühle entgegen, bringen leichte Sprühregenschauer, tragen Wolken an den Himmel, gehen in das farbige Bunt der Blätterwelt über, bevor der Sommer unwiderruflich seinem Ende entgegen geht.

Jedes Jahr... Es geht auf Michaeli zu. Es gilt dem Drachen (in uns) entschieden entgegen zu gehen, einander in die Augen zu schauen, zu streiten, zu kämpfen, wohlmöglich über das Böse zu siegen. Jedenfalls ein Licht anzuzünden und mutig durch die dunklen Gänge des Lebens zu zittern. Nicht an jeder Ecke wartet eine Herausforderung, nicht jedes scharfe Wort ist eine Kampfansage, nicht jeder dunkle Fleck birgt die Finsternis in sich – ohne deine Wunde, wo bliebe deine Kraft?

Es ist wie jedes Jahr und doch immer wieder neu. Das Leben geht weiter, unaufhörlich, Tag und Nacht wechseln sich ab, die Menschen versuchen Schritt zu halten. Es wird gelitten und gelacht, gestritten und gedacht. Jeder für sich und manchmal zusammen. Die Schleifen des Lebens drehen sich aus den Lebensfäden des Einzelnen, gehen auseinander hervor, verheddern sich, werden zur Fußfessel, zu Herzensbändern, zeigen sich am Horizont und entschwinden in der Ferne. Das Leben führt eine geheimnisvolle Regie.

Jedes Jahr... Plötzlich erscheint der Tod und macht grinsend einen Schnitt durch die Unendlichkeit. Der dünne Faden wird durchtrennt, es gibt kein Zurück – das Leben im Totenreich kann nur erlebt und nicht erdacht werden, auch wenn sich Legenden darum ranken. Der Tod ist ein klarer Geselle, da gibt es kein Vor und auch kein Zurück – sein Auftritt ist kurz. Er weicht erst dann, wenn die lichteren Wesen erscheinen und den Entschwindenden aufnehmen in den Klang des Seins.

Es ist wie jedes Jahr und doch immer wieder neu. Das Wort überdauert. Wird, wenn es im Herzen des Sprechers geboren wurde von ihm losgelöst und weitergetragen. Erringt Selbstständigkeit, schiebt die Zivilisation an. Versteckt sich in Ritzen und Schachteln, Hosentaschen und Gehirnwindungen, das Wort bleibt Wort und nimmt uns beim Schopf. Zu eigenem Leben erwacht es, wenn es performativ wird. Wenn Wort und Tat miteinander verschmelzen.

Jedes Jahr… Die Herrlichkeit ist da. Die Fülle, die Gnade und der Saft des Sommers werden über den Herbst bis in den Winter reichen. Michaeli, St. Martin, Nikolaus – die Vorboten des winterlichen Weihnachtsfestes werden fristgerecht erscheinen, im Terminkalender sind sie einzutragen. Wenn auch wir innerlich mitmachen, entstehen die zarten Bewegungen, die richtigen Worte, die sanften Rufe, die Berge versetzen können.

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