Semai erinnert sich nur bruchstückhaft an das alte Lied, das sowohl aus der fernen Vergangenheit als auch aus der weiten Zukunft kommt. Das Lied, das eine Schnittstelle zur Nahtstelle macht und selbstbewusst wie ein einsamer Baum am Strand ihres Lebens steht. Es handelt von sprechenden Füßen, klingenden Händen, schweigenden Mündern. Vom alten Drama des Lebens, das sich jeden Tag aufs Neue vollzieht. Von einer Zeit, als Geheimnisse noch Mysterien waren und Wunden noch verheilten. Von damals, als die Menschen die Sprache der Dinge noch verstanden und Herzen sich unverhohlen zur Verfügung stellten.
…im Sand des Westens, den der Wind auf dem Weg in den Osten von Mensch zu Mensch erklingen lässt, liegt das Gold…
Manchmal hört Semai nur den Klang des Liedes. Dann stellt sie sich vor, dass Bob Dylan an der Straßenbahnhaltestelle, an der sie gerade steht und wartet, ein Konzert gibt und die verborgenen Texte liefert. Sie schließt dann für einen Moment ihre Augen und zeigt sich im Raum und in der Zeit. Die Macht der Straßenbahnfahrpläne, der gebuchten Tickets und des Outlook-Kalenders mit Terminen und Vorgaben verliert sich dann im Dunst des Abends, in der lauen Geschäftigkeit der Großstadt und der Grausamkeit der Baustellen, die Löcher in die Erde reißen.
…im Sand des Westens, den der Wind auf dem Weg in den Osten von Mensch zu Mensch erklingen lässt, liegt das Gold…
Der Klang verdichtet sich, gebiert sich selber neu und metamorphosiert sich durch den demographischen Wandel bis ans Ende der Zeit. Träume, Sehnsüchte und Lieder seien etwas für Kinder und leichtfüßige Menschen, die den Ernst des Lebens nicht begriffen hätten, sagt man in der Postmoderne. Visionen, Ideale und das Denken ohne Fußnoten etwas für Künstler. Das Lied von Semai kennt all diese Worte nicht, die nicht tragen sondern brechen. Die gebrochenen Worte, zerbrochenen Menschen, durchbrochenen Vorhaben – die Zukunft ist eine Sackgasse ohne den Glanz des Windes aus dem Westen.
…im Sand des Westens, den der Wind auf dem Weg in den Osten von Mensch zu Mensch erklingen lässt, liegt das Gold…
In Semais Lied säuselt der Wind verschwörerisch, während die Tatsachen des Lebens auf dem Meeresboden liegen und die Menschen immer noch versuchen, einander in die Augen zu schauen, wenn sie sich begegnen. Romantisch, illusorisch, vielleicht sogar kitschig. Ohne Fleisch ist ein Skelett zerbrechlich. Der Knochenmann droht mit hohler Hand, verstummtem Mund und verrottetem Herzen. Worte brauchen Wurzeln und Flügel zugleich. Das Leben verschlingt sich im Sein des Einzelnen.
…im Sand des Westens, den der Wind auf dem Weg in den Osten von Mensch zu Mensch erklingen lässt, liegt das Gold…
In Semais Lied gibt es einen Hafen, an dem die Fischer nach durchwachter Nacht anlegen um zu zeigen, was sie der Dunkelheit entlockt haben. Die Aura des Liedes ist, wie Walter Benjamin es nennen würde, ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit und kann nur käuflich erworben werden: Mit dem Einsatz des eigenen Lebens. Mit dem Vertrauen, dass die Welt sich weiter dreht, im Kleinen und im Großen, trotz Atommüllverklappung und Mobbing am Arbeitsplatz. Es ist doch sonnenklar, es kann nur gehen, wenn die Bereitschaft siegt, über die Ich-Du-Philosophie des letzten Jahrhunderts zu einer Wir-Philosophie zu gelangen. Wenn Gemeinschaft möglich wird, kleinliche Schmerzen heilen und sich das Große im Kleinen zeigt.
…im Sand des Westens, den der Wind auf dem Weg in den Osten von Mensch zu Mensch erklingen lässt, liegt das Gold…
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