Samstag, 15. September 2012

Im Haus meiner Großeltern. Traumsignale


Ich war im Haus meiner Großeltern, in dem großen und ehrwürdigen Haus in der „alten Heimat“, das meine Großmutter am Kriegsende mit ihren beiden kleinen Söhnen fluchtartig verlassen musste. Auf politisch sicherem Terrain angekommen galt es sich umzustellen, gänzlich. Zur Verfügung standen Übergangszimmer, zur Untermiete.

Ich war in dem Haus meiner Großeltern und seitdem taucht meine Großmutter immer wieder in meinen Träumen auf. Manchmal sind es klare Bilder, manchmal nur Stimmungen. Aber, sie taucht seit meinem Besuch in ihrem Haus, in das sie nie zurückgekehrt ist, nächtlich immer wieder auf. Als ob sie mir etwas sagen wollte, nein, als ob sie mir etwas sagen will.

Bis zum Krieg war das Leben damals in Ordnung – so scheint es. Aber, wie wir wissen, fing die Welt an zu wackeln, und das offensichtlich nicht nur äußerlich, es musste geflohen werden, damit das eigene Leben überleben konnte, sondern auch innerlich, es wurden geistige, seelische und physische Grenzen missachtet, die Würde des Menschen war in Frage gestellt.

Da mein Großvater in Gefangenschaft geriet, war es der betuchte und mehr schlecht als recht verheiratete Schwager, der sich meiner Großmutter mit ihren beiden Jungs annahm. Mein Großvater kam zwar aus der Gefangenschaft zurück, abgemagert und ausgemergelt wie er war, und ging arbeiten, um seine kleine Familie zu ernähren, aber lang ging das nicht gut.

Er fand zwar tatsächlich eine neue, ihm angemessene Stelle, er war Elektroingenieur, in einem Uranbergwerk, aber schon kurze Zeit später starb er. Auf seinem Totenschein steht: Lungenentzündung. Die Vermutung ist: radioaktive Verstrahlung.

In welchem Verhältnis er zu seinem Schwager stand weiß ich nicht. Aber der Schwager war der Mann seiner Schwester und gehörte damit zur Familie. Er war einflussreich und hatte zwei größere Töchter, musste also auf einen Stammhalter verzichten und war mit einer Frau von Stand verheiratet, die einen Stock verschluckt zu haben schien – aber, damals wog das verwandtschaftliche Netz noch tonnenschwer, da gab es kein Entrinnen.

Diesem Schwager samt Familie zog meine Großmutter mit ihren Söhnen hinterher. Er organisierte Zimmer, Wohnungen, Häuser. Er war ein einflussreicher Mann, der sein Geld gerettet hatte, er war ein angesehener Arzt. Und irgendwie schien ja alles gut zu sein. Was will eine Frau mit zwei kleinen Söhnen mehr, als eine soziale und familiäre Einbettung zu haben, wenn der eigene Mann in so einer bewegten Zeit stirbt und man selber plötzlich mittellos und irgendwie verloren ist?

Aber irgendetwas ist schräg an dieser Geschichte. Denn es kam zu einer zweiten Flucht. Alle Beteiligten waren im Osten des Landes gelandet – weil der Schwager dort Verbindungen hatte. Und dann machte der älteste Sohn meiner Großmutter das Abitur. Und das DDR-Regime ließ ihn nicht studieren. Das schien äußerlich ein guter Grund zu sein, um die Karten des Lebens noch einmal neu und entschieden zu mischen.

Meine Großmutter packte mit ihren nun großen Söhnen einen kleinen Koffer, sagte dem Schwager und der Welt, dass sie mit den Jungs für ein paar Tage an die Ostsee führe – und kam nie wieder. In Berlin gelang es den Dreien die Seiten zu wechseln – von Ost nach West. Und sie begannen ein neues Leben. Noch einmal – und ohne Schwager.

Es schien das Studium der Söhne zu sein. Aber ich glaube, dass noch mehr dahinter stand, denn meine Großmutter war nicht der Typ, der schnelle, beherzte und starke Entscheidungen trifft. Ich nehme an, dass sie der Abhängigkeit entfliehen wollte, dem Ausgeliefertsein – obwohl es doch sicher so ein guter Schwager war, der sich um sie bemühte, an der Stelle des eigenen Mannes…

Viele Jahre später, nachdem der Schwager gestorben war, ist die verstockte Schwägerin auch in den Westen gekommen, dieses Mal ist sie meiner Großmutter hinterher gezogen. Verwandtschaft trägt eben. Ob sie jemals darüber gesprochen haben? Die Urnen meines Großvaters und des Schwagers, meines Großonkels also, den ich nie kennen gelernt habe und nur von starren Fotos kenne, wurden von Ost nach West umgebettet und auf dem Friedhof etwa fünfeinhalb Meter voneinander entfernt platziert.

Ich war in dem Haus meiner Großeltern und habe die äußere Geschichte begriffen. Fakten, Daten und politische Zusammenhänge. Jetzt, im Nachklang wird mir das innere Drama, über das geschwiegen wurde, langsam deutlich. Es gab da eine zweite, verborgene Geschichte unter der meine Großmutter sehr gelitten hat.

Warum, Großmutter, tauchst du sonst nach meiner Reise in deine alte Heimat so eindringlich in meinen Träumen auf, willst du, dass ich diese mögliche Geschichte erzähle?

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