Sonntag, 30. September 2012

Leerstellen und Stille. Oder: Was ist mitteilbar?


Obgleich unheimlich viel über den Lebens- (und Leidens)weg von Parzival bekannt ist, ja sogar über die Vorgeschichte seiner Eltern ausführlich berichtet wird, gibt es interessanterweise zwei eklatante Leerstellen in der Erzählung. Da wird einfach geschwiegen, kein Wort verloren – ein neues Kapitel aufgeschlagen - und der Leser erfährt nichts mehr vom Helden der Geschichte. Die Leerstellen bleiben leer und die Stille bleibt an diesen Stellen still. Aber was erzählen sie uns?

Die eine Leerstelle, die es in der großen Parzival-Erzählung gibt, sind die viereinhalb Jahre, in denen Parzival irgendwie verschwunden ist. Er sucht und flucht, ist offensichtlich verzweifelt, kämpft immer wieder und siegt an Stellen, die ihm nichts zu bedeuten scheinen. Erst kurz vor seiner Einkehr bei Trevrizent taucht er in der Erzählung wieder auf – vorher muss der Cousin Gawan herhalten und die Leser versuchen von Parzivals dunkler Gestimmtheit abzulenken. Er springt als Lückenbüßer ein.

Ich kann es mir nicht anderes erklären, als dass der Leser damit geschont werden soll. Wie müssen diese Jahre für Parzival ausgesehen haben? Wie oft hat er geweint, einsam und von dunklen Gedanken umzingelt an einem Abgrund gesessen, sich selbst verflucht oder gar bemitleidet, weil er ja dem Gral schon einmal so nahe war? Und erst recht wird ihn die Sehnsucht nach Condwiramurs geplagt haben – warum ist er überhaupt von ihr fortgeritten? Es ging ihm doch gut bei ihr…

Aber er hat weiter gemacht, immer weiter gemacht, irgendwie. So jedenfalls sieht es aus. Die beständigen Motive der Erzählung, die große Freundschaft zwischen Zweifel und Treue, kommen gerade an den Stellen zum Vorschein, in denen geschwiegen wird. An den Stellen, an denen es keine Worte gibt, die wir erahnen könnten, selbst wenn wir die Augen schließen und in uns hinein spüren. Es bleibt dort dunkel und leer.

Die andere Leerstelle der Erzählung ist die Zeit nach der Gralskrönung Parzivals, als die Familie zusammengeführt, der leidende Anfortas geheilt ist, Feirefiz seine Repanse de Schoye geheiratet hat und das Leben in der Gralsgesellschaft offensichtlich in ruhigere Bahnen geraten ist. Warum erfahren wir von dem Glück nicht mehr, warum werden die folgenden Jahre nicht beschrieben? Parzival müsste doch noch jung sein und nach den Mühen endlich das erreicht, was es für ihn nach all der Plage zu erreichen gab…

Wir hoffen und bangen mit dem Titelhelden der Geschichte - bei Wolfram in knapp 25 000 Versen (!) – und die Erzählung ist zu Ende, einfach zu Ende und der Leser wird alleine gelassen. Ist das Glück an dieser Stelle zu banal, zu langweilig um beschrieben zu werden? Verliert das Errungene seine Strahlkraft? Hört mit dem Erreichen eines Ziels alles auf, gibt es dann nichts mehr zu erleben, zu erfahren, zu erzählen?

Ich nehme an, dass es zwei Gründe für diese Leerstellen, die eine ein Flop, die andere ein Hop gibt: sowohl die Depression, das innere Schlachtfeld als auch die glückliche Banalität, die Alltäglichkeit des Lebens sind für die Leser und damit die Mitmenschen einfach zu groß. Kann man an den wirklich dunklen Phasen eines Menschenlebens und an den echt hellen Zeiten richtig Anteil nehmen, empathisch sein, halten wir das überhaupt voneinander aus?

Was uns (und auch die literarischen Figuren) durchs Leben führt sind die Unsicherheiten und die Fragen, nicht die Sicherheiten und die Antworten. Es sind gerade die dunklen oder hellen Momente, über die nicht gesprochen werden kann. Interessant wird das Leben an der Stelle, an der die Sprache versiegt und die Erzählung schweigt.

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