Sonntag, 26. August 2012

Eine Reise nach Böhmen. Geographische und seelische Heimat


Ich habe mich auf deine Spuren begeben, bin deiner verlorenen Heimat nach gereist. Ich bin in das Land gefahren, aus dem du kommst, bin in die Orte gekommen, in denen du gelebt hast, habe mir die Häuser angeschaut, in denen du gewohnt hast. Damals, lange bevor ich auf die Welt kam. Ich habe mich in das Land begeben, das ich nur aus Erzählungen kannte – ja, das als Land eigentlich gar nicht existierte, sondern nur als geographischer Ort, an dem dein Leben stattgefunden hat, deine irdische Heimat begründet lag. Wenn ich mich recht entsinne, dann hast du die Landessprache nicht gesprochen, sondern nur die eigene, unsere, die des Volkes, zu dem wir gehören.

Die sanfte, hügelige Landschaft hat mir gut gefallen. Leichtigkeit lag darin. Das Grün leuchtete satt und voll, die Erde strahlte Güte aus. Ich bin durch Wälder gefahren in denen es Wild und Beeren gibt, durch verwunschenes Gehölz in denen die Zweige und Blätter mit ihrem Rascheln noch Geheimnisse in die Lüfte flüstern aber doch nichts Konkretes preisgeben. Auf Lichtungen und Kuppen sah ich prächtige Holzhäuser, in denen Wanderer oder Reisende eingeladen werden Gulasch, Knödel, Griebenplätzchen oder Karpfen zu essen.

Und ich fuhr über weite Ebenen und durch Dörfer, Orte und kleine Städtchen. Dort winkt die alte Zeit von allen Seiten, die sich mit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts nur schwerlich zu vermählen weiß. Alt und neu klaffen auseinander, zeigen die alte, geschlagene Wunde, der mit einem neuen Farbanstrich nicht beizukommen ist. Manche Orte wurden weder zerstört noch musste angebaut werden, so dass der Marktplatz mit dem Gründerzeitensemble rund herum heute wie eine Kulisse wirkt. Nachmittags um drei, wenn die Sonne brennt, ist hier kein Mensch zu sehen.

Im Gasthof hängen noch Fotos vom Besuch des letzten Kaisers der k.u.k. Monarchie – als wäre es gestern gewesen. Ohne viel Fantasie lässt sich vorstellen, wie das Ereignis auf dem großen Marktplatz vor sich ging. Auch du warst dabei. Und dein Mann, mein Großvater. Ob ihr damals schon geahnt habt, welche Zeiten auf euch zukommen? Welch unerbittliche Schlacht Europa ergreifen und fast vernichten wird?

Ich war in deinem Haus. Am Haus deiner Schwiegereltern, dem Elternhaus meines Großvaters, ich war bei der Brauerei und am Flüsschen, den Tennisplatz haben wir nicht mehr gefunden, dafür aber die vielen Gräber auf dem Friedhof, die zur Familie gehören. Prächtige Gräber, die sich noch heute so präsentieren, als ob tagtäglich jemand käme. Ja, wer mag zuletzt dort gewesen sein? Wen kümmert diese Anlage, wer pflegt sie eigentlich, all die Gräber der alten Zeit, die die Einhundertjahresgrenze schon bald überschreiten?

Über all den Ereignissen liegt das Siegel der Verschwiegenheit, der Vergangenheit. Politisch war hier nicht alles korrekt. Aber es ist vorbei. Und das ist in Ordnung. Hier wird nicht mehr gelebt. Der Besitz ist verloren, die Zeiten haben sich geändert, die Menschen sind weggegangen oder gestorben. Nur das Land ist noch da und die Steine, die von Menschenhand gebaut wurden – eigentlich für die vielen kommenden Generationen. Aber die Menschen der heutigen Zeit, die jetzt in euren Häusern leben, scheinen sich mit dem ergaunerten Erbe eher schwer zu tun. So richtig prickelnd wirkt das Leben dort nicht.

Ich kann dich also beruhigen. Deine Heimat im geographischen Sinne ist noch da. Es steht alles noch und es ist genauso, wie du mir davon erzählt hast! Und ich versichere dir, das Land, in dem du so lange gelebt hast, hat mir gefallen. Auch wenn ich die Sehnsucht, Heimat in einem Land, einem Ort, einem Haus zu finden, so gut verstehen kann, so gilt doch der Satz von Max Frisch heute um so dringlicher: „Heimat ist der Mensch, dessen Wesen wir vernehmen und erreichen“. Nicht nur für mich, sondern auch für dich habe ich diese Reise gemacht. Und ich wünsche dir, dass mein Schreiben dich erreicht und dir damit ein neues Gefühl für Heimat schenkt – deine Nachkommen nehmen Anteil an dir und verfolgen die Spuren deines Lebens! - weit über den irdischen Tod hinaus.

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