Du kamst damals wegen einer Anderen. Sie sollte auf der Bühne zu sehen sein, in einer Nebenrolle. Aber du warst da, bevor das Stück begann – oder trafen wir uns erst in der Pause? Ich gehörte eigentlich nicht zu dem Club. Aber ich war hinzugezogen worden und war nun halt dabei. Mein Job war es Querflöte zu spielen. Und da ich damals ziemlich romantisch veranlagt war, konnte ich das recht gut. In dem Stück ging es um Liebe und Tod. Die Musiker saßen vor der Bühne. Im Dunkeln. Und immer wieder erklangen meine Flötentöne. Das war aufregend und wunderbar.
Wir trafen uns also. Wir kannten uns entfernt von früher – deine Familie gehörte zum Dunstkreis meiner Familie. Bis dahin aber wussten wir nichts miteinander anzufangen. Das änderte sich. Ich stand draußen, vor dem Bühneneingang. Und plötzlich berührte mich jemand mit dem Fuß an meiner Schulter. Das warst du. Schon immer sehr gelenkig. Ich sehe dich noch. Deine dunklen Augen, dein suchender Blick. Du hattest einen blau-grauen Trenchcoat an, stimmt das? Und Turnschuhe. Nein. Es waren Fußballschuhe. Schmal, schwarz. Die mit den Löchern oben. Aber die Noppen unten hattest du abgemacht. Das sah elegant aus. Du meintest vage, dass wir uns kennen würden.
An das Gespräch erinnere ich mich nicht mehr. Aber wir verabredeten uns. Klar war, dass da etwas begann. Als wir wenige Wochen später zusammen in einem Zelt in Südfrankreich lagen, lasen wir gemeinsam in zwei Büchern und unterhielten uns stundenlang darüber. Die Autoren waren Max Frisch und Tolkien. Wir waren an der Schwelle zum Erwachsenwerden und hatten das Gefühl, dass das Leben beginnt. Wir nahmen uns ernst. Wussten, dass es (mal wieder) auf unsere Generation ankommt. Wir wollten alles anders machen, klar, wir wollten natürlich alles viel besser machen.
Wir waren hungrig auf das Leben, aber befangen, denn in unseren Elternhäusern wurde zwar von morgens bis abends über Politik geredet – auch unsere Eltern dachten schon, dass sie die Gesellschaft erneuern könnten – aber farbige, duftende oder seidenweiche Visionen gab es nicht. Nur verbotene Schriften, dunkle Mahnmale und der Tunnelblick auf die Arbeiterklasse, die sich gefälligst zu erheben hatte. Es galt einzusteigen und mitzumischen, irgendwie – aber wir wollten es anders machen.
Der Roman von Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein, hat uns die eine Vorlage gegeben: das Leben ausprobieren. Der Protagonist wechselt Geschichten wie Kleider. Er probiert, testet seine Identität. Er schaut in den Spiegel, verwandelt sich immer wieder. "Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält." Wir waren begierig darauf uns vorzustellen, wie das Leben sein wird, wenn wir es selbst gestalten. Wir ahnten, dass es vielleicht nicht ganz so einfach sei. Aber wir wussten, dass wir uns sicher die richtige Geschichte aussuchen würden – daran gab es keinen Zweifel.
Die andere Vorlage war „Herr der Ringe“ (damals noch ganz unbekannt): treu und unbeirrt für die gute Sache kämpfen. Da wir beide ohne Märchen und Mythen aufgewachsen waren, in einem aufgeklärten Haushalt gab man den Kindern sozialkritische Comics zu lesen, verschlangen wir die Abenteuergeschichte fasziniert. Es galt den Ring zu vernichten. Über die Bösen zu siegen. Freundschaft und Feindschaft zu erleben, Vertrauen und Misstrauen abzuwägen, der eigenen Stimme und der der vermeintlichen Ratgeber zu folgen – es galt um Frodo Beutlin zu zittern und mit ihm zu ziehen: Er musste siegen!
Und so machten wir uns nach ein paar gemeinsamen Jahren auf, unsere eigene Geschichte zu suchen und zu leben, den bösen Ring zu vernichten – und gerieten jeder für sich in Abenteuer, die Jahre in Anspruch nahmen. Auch hatten wir damals nicht angenommen, dass es möglich war in mehreren Geschichten gleichzeitig eine Rolle bekommen zu können. Hie und da haben wir uns aus der Ferne zugewinkt. Du hast Karriere gemacht, ich Familie gegründet. Dann gab es eine Kursänderung, ich wurde in der akademischen Welt aufgenommen und du übst dich jetzt als Vater, wo meine Kinder erwachsen sind. Das Leben hat uns weit auseinander getrieben – ob wir von einem ähnlichen Menschenbild ausgehen? – und doch berühren sich unsere Geschichten immer wieder.
Du hast mich eingeladen, mit all jenen Protagonisten ein Fest zu feiern, die dir heute wichtig sind und ich durfte einen Blick in eine deiner Geschichten werfen – wofür ich dir sehr dankbar bin. Du trägst noch immer einen silbernen Armreif (wie damals) und schätzt dich glücklich mehrere Sprachen zu sprechen. Mindestens drei Länder sind es, die dich beruflich in Atem halten, ganz abgesehen von den Konferenzen all over the world. Ich hingegen versuche noch immer in einem Kleid durch das Leben zu kommen – egal wo ich agiere. Es ist alt und kostbar und nicht sicher, ob es der Zukunft Stand hält. Aber es gibt mir Halt, in dieser sich drehenden Welt, die mir viel mehr Geschichten bietet, als wir es uns damals vorstellen konnten.
Deine Geschichten und meine Geschichten, manchmal überkreuzen sie sich. Die Leichtigkeit von Max Frisch konnten wir uns nicht immer bewahren, aber ganz so existentiell wie bei Tolkien war es auch nicht immer. Welche Geschichten werden Bestand haben, wenn wir einst zurückschauen werden und den Kindern oder Enkeln berichten…? Erzähle mir mehr davon, wie du deine Geschichte weiter schreiben möchtest. In deinen braunen Augen sehe ich noch immer die bescheidene Frage von damals: Sind es die richtigen Rollen, die wir in der Geschichte einnehmen?
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
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Wort und Wort
Hilde Domin
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