Ich habe ein Foto von dir im Internet entdeckt. Auf dem Bild ist eine wunderschöne Frau zu sehen. Ich glaube, du siehst deinem Vater ähnlich, kann das sein? Zu sehen ist nur dein Portrait. Ich wende all meine Phantasie die mir zu Gebote steht auf, um dich wiederzuerkennen. Es gelingt. Ich bin mir sicher, dass du es bist. Deine Augen sind es, die die Erinnerung hervorrufen. Viele Jahre sind vergangen, fast ein ganzes Leben. Wir haben uns nicht mehr gesehen, seit wir Kinder waren. Ein paar Mal telefoniert, Postkarten – ich kann mich nicht an mehr erinnern.
Aber ich habe dich nie vergessen. Heute hast du Geburtstag. Immer ein Jahr jünger als ich – das hat uns schon als Kinder geärgert. Wir wären gerne gleich alt gewesen – stimmt‘s? Dann wären wir auch in die gleiche Klasse gegangen. So aber haben wir nur den Schulweg hin und her miteinander geteilt – immerhin haben wir aber im selben Hochhaus gewohnt. Ich glaube, dass wir zwei Etagen über euch wohnten. Auf jeden Fall hatte die Wohnung den gleichen Grundriss. Ganz genau den gleichen. Unsere Zimmer lagen übereinander. Unsere Väter haben zusammen studiert und dann miteinander gearbeitet, darum sind die beiden Familien auch gemeinsam aus dem Süden in die Neubauwüste in den Westen gezogen.
Oft haben wir uns damals vorgestellt, über welche Kanäle wir die Wohnungen miteinander verbinden könnten. Auf jeden Fall unsere Zimmer. Telefonieren (graue Apparate mit Wählscheiben) war damals für Kinder keine Selbstverständlichkeit. Aber irgendwie mussten und wollten wir uns ja verständigen. Unsere Brüder, Max und Moritz, waren zu klein, die haben wir in diese Überlegungen nicht einbezogen. Wir haben Büro gespielt und aus den Arbeitszimmern der Eltern so allerlei Papiere, Stifte und wichtige Utensilien mitgenommen, damit wir auch ganz ernsthaft Geschäfte abwickeln konnten. Aber erst mussten wir immer unsere Hausaufgaben machen.
Aus dem Fenster eurer und unserer Küche hat man erst die Straße, dann den Friedhof und schließlich das rote Opelwerk gesehen. Erinnerst du dich? Auf den Friedhof durften wir nicht, das weiß ich noch. Da stand ein Schild, dass Kinder nur in Begleitung erwünscht seien. Aber einmal, daran erinnere ich mich noch ganz genau, haben wir uns erdreistet, den Friedhof zu erkunden. Ohne Erwachsene. Das hat uns sehr gereizt. Wir hatten uns auch eine wasserdichte Ausrede überlegt, wenn man uns erwischt hätte, dann hätten wir gesagt, dass wir zu unserem Großvater wollten, der kürzlich verstorben sei…
Aber sie haben uns nicht erwischt. Nein, wir konnten unbeschadet inspizieren, was uns einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Der Tod. Ewige Ruhe. Wir wussten nicht, wie wir uns das wirklich vorstellen sollten. Als Mensch in eine Holzkiste gelegt werden und dann unter der Erde liegen, ewig… Jedenfalls stromerten wir von Grab zu Grab und phantasierten, wer da aus unserer Verwandtschaft alles begraben läge, wir erfanden Geschichten und konnten gar nicht mehr aufhören… Ich weiß noch, dass ich in der Nacht danach schlecht geträumt habe. Das war schon ein großes Abenteuer für uns kleine Mädchen. Unseren Eltern haben wir bestimmt nichts davon erzählt…
Wir haben auch Wochenenden und Ferien miteinander verbracht – das war eine sonnige, reiche Zeit voller Spiele. Irgendwann ist Willy Brandt zurückgetreten – ich sehe unsere Mütter noch mit der Zeitung WAZ im Treppenhaus stehen und miteinander reden. Ich das blonde und du das braunhaarige Mädchen – was die redeten interessierte uns nicht, wir liefen zusammen zur Schule. Auf deine langen, schmalen Finger war ich schon als Kind neidisch.
Wir gehörten zusammen! Aber irgendwann hieß es, dass ihr umzieht. Nach Berlin. In die geteilte und vor allem ferne Hauptstadt. Das war sehr traurig für uns. Ich kann mich noch an eure leergeräumte Wohnung erinnern. Im Flur hinten gab es auf der linken Seite, gegenüber vom Bad, einen eingebauten Wandschrank (den wir auch hatten) mit weißen Türen. Und da hat deine Mutter die letzten Dinge aufbewahrt, die nicht von der Umzugsspedition mitgenommen werden sollten. Draußen stand ein riesiger Laster.
Auf der cremefarbigen Wand des Speditionslastwagens stand Schulze, Berlin-Mariendorf in dunkelgrüner Schreibschrift. Das sehe ich noch heute vor mir. Ich versuchte mir damals vorzustellen, wie all deine Spielsachen, dein Bett und dein Tisch, all deine Kleider und dein Schulranzen irgendwo in dem Lastwagen verstaut waren und sich auf eine unbekannte Fahrt begeben mussten. Ich kannte eure zukünftige Wohnung nicht und konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass all deine Sachen in ein anderes Zimmer transportiert würden.
Manchmal habe ich später noch die Lastwagen „eurer“ Spedition auf deutschen Autobahnen gesehen – immer habe ich an dich gedacht.
Wir wohnten schon über zehn Jahre nicht mehr in der gleichen Stadt und als dann meine erste Tochter geboren wurde, warst du enttäuscht, dass ich dich nicht als Patentante erwählt hatte. Das tut mir bis heute Leid. Vielleicht hätten wir dann unsere Freundschaft erhalten können, irgendwie…. Du warst damals in Südamerika, ich in eine kleine Welt verschwunden. Mittlerweile haben wir einen Großteil unseres Lebens gelebt, manche Ziele erreicht, manche Wünsche über Bord geworfen. Zeit, einmal wieder von einander zu hören, ich würde mich freuen – was meinst du?
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
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Hilde Domin
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