Freitag, 6. Februar 2015

Ein Zauberkasten für Sylvia und ein geheimnisvolles Ypsilon

Bei dir zu Hause war alles anders als bei mir. Ich war fasziniert. Auch ein bisschen verunsichert. Aber auf jeden Fall neugierig und immer ein bisschen nervös, wenn ich bei euch war. Ich wusste nie, was da kommen würde, was bei euch galt, was normal war, wie es sein musste… Du lebtest mit deiner Mutter und deinen beiden Schwestern, eine war jünger (Bigi?) und eine älter (Anja?), in einem Wohnblock schräg gegenüber. Ihr drei hattet ein Zimmer zusammen, deine Mutter schlief im Wohnzimmer. Bei euch sah alles anders aus als bei uns.

Ihr hattet eine grünbeschichtete Einbauküche. Und im Wohnzimmer einen geblümten Teppich unter dem Wohnzimmertisch. Der war aus Holz, aus rustikaler Eiche. Die Wände waren mit farbiger Tapete beklebt. Vor den Fenstern hingen Gardinen, damit niemand hereinschauen konnte. Und es gab einen Fernseher, damals, wie überall, nur schwarz-weiß. Aber er stand dekorativ in der Wohnzimmereinbauwand. Auch gab es Dinge, die platziert worden und nicht anzufassen waren. Deko. Ein bisschen wie in einem Museum. Alles hatte seinen Platz. Auch die Plastikblumen, deren Vase auf einem Deckchen stand.

Deine Mutter hatte blonde Locken, die sie sich vom Friseur legen ließ. Und sie war geschminkt. Abends ging sie in die Kneipe – in eine Trinkhalle. Dort trank sie Bier, rauchte und lachte mit den Männern. Sie sprach ganz anders als meine Mutter. Es gab Sprüche - Gewohnheiten und Abmachungen die ich nicht kannte. Die Welt war schlecht, aber man musste irgendwie durchkommen. Mit roten Fingernägeln schien das zu klappen. Ihr fuhrt nie in den Urlaub. Und am Wochenende, wenn deine Mutter Herrenbesuch hatte, durftet ihr nicht ins Wohnzimmer.

Wir gingen in eine Klasse. Wahrscheinlich wurden wir nebeneinander gesetzt. Ich weiß es nicht mehr. Deinen Namen fand ich schön. Sylvia. Mit Ypsilon geschrieben – einem Buchstaben, der Geheimnisse barg. Deinen Vater gab es nicht – auch dies ein geheimnisvolles Abenteuer für mich. Wie konnte das sein? Du musstest doch einen Vater haben… Aber bestimmte Fragen wurden nicht gestellt. Diese gehörte mit Sicherheit dazu.

Meine Eltern fanden es gut, dass wir befreundet waren. Irgendwie sollte ich dir etwas zeigen, dich in meine Welt einladen – obwohl ich lieber bei euch war. Da war alles so anders. So deutlich. Und fremd zugleich. Man durfte auch nicht alles bei euch. Im Wohnzimmer spielen war völlig daneben. Bei euch war klar, was sich gehörte und was nicht. Einmal wollten wir uns nach der Schule verabreden. Aber du durftest nicht. Hattest „Stumares“. Ich wusste nicht, was das war. Aber irgendwie warst du nicht frei zu kriegen. Was das Wort wirklich bedeutete (Stubenarrest!) wusste ich nicht. Ich verstand nur, dass es wieder einmal so war, dass du aus ungeklärten Gründen unabkömmlich warst.

Das passierte immer wieder. Auch gab es Ohrfeigen bei euch. Fernsehverbot. Und du musstest gute Noten nach Hause bringen. Da sollte ich dir eine Stütze sein. Auch wenn ich nicht immer verstand, was die Lehrer wollten, Hr. Faßbender, der Konrektor, war unser Klassenlehrer und irgendwie mussten wir es schaffen, ihm zu gefallen. Einmal kam eine Fotografin in die Schule. Wir mussten uns einzeln hinsetzen und die Arme verschränkt auf den Tisch legen. Für das zweite Bild durften wir jemanden auswählen und wurden dann zu zweit abgelichtet. Wir suchten einander aus und du warst stolz darauf.

Für Geburtstage meiner Freundinnen besorgte meine Mutter immer kleine Geschenke, die ich dann mitbrachte. Aber für dich, du hast in den ersten Januartagen Geburtstag, einige Wochen vor mir, kaufte sie einmal einen Zauberkasten. Das war wirklich ein sehr großes Geschenk, ich war neidisch, aber meine Mutter sagte, du bräuchtest so etwas – du würdest so etwas in deiner Familie nicht bekommen. Und du freutest dich wirklich sehr, konntest es gar nicht glauben, was ich da mitbrachte. Ja, das sehe ich noch vor mir, denn das war etwas Besonderes. Bei dir gab es zu Hause manchmal richtig viel Ärger, deine Mutter hatte es nicht so leicht, allein, mit drei Töchtern und ohne Beruf…

Und so kam sie auch zu uns in die Wohnung und hat bei uns geputzt. Mit dem blauen Staubsauger. Da hat sie nicht schlecht gestaunt, wie es bei uns aussah – kaum, dass sie die Räume herkömmlichen Funktionen zuordnen konnte. Aber meine Eltern fanden, dass sie sie gerne finanziell unterstützen wollten, da sie doch eine alleinstehende Arbeiterfrau war, die sich von ihrem schlägernden Mann getrennt hatte und nun zusehen musste, wie sie in der Sozialwohnung mit der Sozialhilfe zurechtkam.

Du warst mir eine Freundin mit vielen Geheimnissen und hast mich in eine Welt eingeführt, die ich nicht kannte. Nach den vier Grundschuljahren kamen wir auf verschiedene Schulen und wir sind umgezogen – fort aus der Betonwüste. Wir haben uns nie wiedergesehen. Gerne wüsste ich, was aus dir geworden ist – wo und wie du lebst, was du machst und wie es dir geht, Sylvia, meine Schulfreundin mit dem geheimnisvollen Ypsilon.

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