Montag, 19. Januar 2015

Spiegelbild und Filmausschnitt - dazwischen fünfunddreißig Jahre


Das Mädchen sagt, dass sie vierzehn Jahre alt sei. Sie sieht jünger aus. Ihre Stimme ist fest und brüchig zugleich, ein wenig rau und kratzig. Sie hat einen blauen Nickipullover an, darüber eine dunkelrote Weste – farblich passend zur Cordhose. Ihre Haare sind lang und glänzen, sie hängen ihr wie ein warmer Schal um die Schultern. Ihre Augen haben etwas Fragendes. Sie ist bei sich. Und sie ist eine Frage. Wie ist die Welt und warum ist sie so wie sie ist?

Sie sitzt in einer Talkrunde – die Sendung wird live ausgestrahlt – und wird befragt. So, wie die anderen auch, die einen Brief geschrieben hatten und eingeladen wurden. Köln, WDR Studio, Appelhofplatz. Sie bringt sich ein, formuliert Probleme, erzählt von sich – aber die Sendung ist zu kurz. Zu viele Menschen, zu viele Geschichten – ein Blitzlicht einer Thematik, die das Leben schreibt und die Länge eines Romans braucht.

Den Riss in der Welt hat sie von Beginn an mitbekommen. Das hat sie irritiert, von Anfang an. Sichtbar wurde er durch die Menschen in ihrem Umkreis. Aber das kann sie nicht benennen. Zwar scheut sie sich nicht davor, ihre Meinung kund zu tun – aber ein Fragezeichen bleibt immer. Zumindest ein fragender Blick in die Erwachsenenwelt. Kann es sein, dass die Welt so unvollkommen ist? Sie sucht Halt – Liebe und Geborgenheit. Und sie versucht zu verstehen, was sich verstehen lässt. Sie ahnt, dass sich nicht alle Rätsel dieser Welt lösen lassen. Aber glauben kann sie es noch nicht. Sie will es nicht.

Die Frau schaut in den Spiegel. Ein Blick durch die Brille. Ihre Augen sehen erschöpft aus. Falten suchen ihren Weg bis in die Ferne, sie sieht Flecken auf der mit Naturkosmetik gepflegten Haut und hat die Neigung die Tür zwischen Innen- und Außenwelt zu schließen. Auch ihre Haare sind müde, sie erzählen von besseren Tagen, eins ums andere färbt sich langsam grau. Pupillen und Augenwimpern leiten ihren Blick zum Brillengestell – schwarz. Das ist die Farbe der Tatsachen. Aber der blaue Lidstrich korrespondiert mit ihrer blau-grauen Iris, das hält sie wach – da leuchtet etwas.

Die Frau schaut zurück – bin ich die, die ich einmal war? Ich erkenne mich kaum wieder. Der Roman hat sich weiter entwickelt. Damals war es Seite 143, heute ist sie auf Seite 491. Wie viele Seiten noch kommen ist ungewiss. Aber es haben sich Antworten ergeben. Antworten auf Fragen die damals gestellt wurden und Antworten auf Fragen, die nicht gestellt wurden. Probleme, von denen sie dachte, dass sie gelöst werden können müssen heute umformuliert werden: es sind Tatsachen. Das Mädchen von damals schaut nach vorne, offen und fragend – wer werde ich einmal sein? Wie werde ich das Leben handhaben?

Fünfunddreißig Jahre sind vergangen. Ihre Blicke kreuzen sich im Strom der Zeit. Ich sehe mich heute von außen. Im Spiegel und im Film. Bin ich das? Die beiden, das Mädchen und die Frau, haben versucht den Riss in ihrer Welt zu kitten – auf ihre Weise. Bescheiden natürlich. Wie sollte man leben, mit den Ungerechtigkeiten in der Welt, den Gefahren und apokalyptischen Bildern in Umwelt, in einer zerrissenen Gesellschaft und einem ausufernden sozialen Netzwerk? Es galt eine kleine Flamme zu entzünden und ihr treu zu bleiben – durch alle Stürme und Unwetter des Lebens hindurch.

Fünfunddreißig Jahre sind eine lange Zeit. Spiegelbild und Filmausschnitt machen sichtbar, dass Zeit vergeht. Gedanken können aalglatt sein, aber das Erlebnis ruft Betroffenheit hervor. Darüber lässt sich nicht so ohne weiteres hinwegdenken. Ich bin ich, damals und heute. Aber ich habe mich gehäutet, die Materie ist nur noch bedingt die gleiche. Der Abdruck meines Ichs zeigt sich in der sichtbaren Hülle – fremd und vertraut zugleich. Wenn ich am Abend meine Brille abnehme sehe ich den Abdruck an meiner Nase, bis zum nächsten Morgen wird er verschwunden sein – um danach wieder neu zu entstehen. Das geht zwischen Tag und Nacht immer so fort.

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