Samstag, 1. Dezember 2012

Verborgene Geschichten, die sich im Kerzenlicht zeigen


Was geschieht mit den Geschichten, die noch nicht erzählt wurden? Mit den Erlebnissen, die nicht geteilt wurden? Mit dem, was Menschen passiert und was bislang niemand erfahren hat?

Anna sitzt am Fenster und schaut den Schneeflocken zu, wie sie die Welt bedecken. Wie sich Schneeflocke auf Schneeflocke legt und somit einen weißen Teppich über die Erde ausbreitet. Auf den Zweigen des Baumes liegen dicke weiße Polster, die sich dann auflösen, wenn Wind oder Wärme kommen, noch aber thronen sie wie ein Zuckerguss in der Krone der Kastanie. Manche Geschichten sind Muscheln in der Zeit und werden nun vom Schnee bedeckt.

Himmel und Erde unterscheiden sich heute durch Farbnuancen, weiß und weiß und noch einmal weiß. Das Leben hat sich nach innen verzogen. Die Erde ruht – verarbeitet den Herbst und den Sommer und bereitet sich auf das Frühjahr vor. Auf neue Geschichten. Der Winter lädt ein, die verborgenen Geschichten zu erzählen, die, die noch nicht erzählt wurden. Geschichten zwischen Menschen. Ereignisse, Erlebnisse. Anna denkt an Semai – sie kommt aus dem Land der Geschichten und wird nicht in das eingehen, was man Geschichte nennt...

In den Häusern brennt Licht, wenn es dunkel wird. Anna erinnert sich an den gestrigen Abend. Sie hat die Lichter gesehen. Viele Fenster waren erleuchtet. Aber die Menschen hat sie nicht gesehen. Vorhänge haben sie verdeckt. Manchmal auch Jalousien, die nur kleine Schlitze für das die Weite suchende Licht ließen. Auch hat sie leere Fenster gesehen. Sie ahnt, dass sich ganz verschiedene Szenen hinter den Fenstern, in den Häusern abspielen. Abgespielt haben. Abspielen werden. Manche Geschichten sind versteckt und manche sind schrecklich.

Anna legt ihre Geschichten des letzten Jahres auf den Tisch. Sie holt eine nach der anderen hervor. Es sind viele. In jeder kommt sie selber vor. Irgendwie. Es sind ihre Geschichten. Sie will sie sortieren. Ihnen Namen geben, wenn sie schon keinen Platz in der Welt gefunden haben, damit sie sie wiederfindet, irgendwann einmal. Zu dem Zeitpunkt, wenn eine Geschichte ans Licht drängt. Wenn sie erzählt werden will, wenn ihre Zeit gekommen ist. Anna versorgt ihre Geschichten – die gelebten und die nicht-erlebten, die goldenen und die grauen, die leichten und die schmerzhaften.

Ihre Geschichten brauchen unterschiedliche Plätze, sie wollen einen passenden Ort. Manche wollen auf Moos gebettet werden (woher bekommt sie das, überall liegt doch Schnee!), sie wollen weich liegen und sind auf den Geruch des Waldes angewiesen. Andere brauchen eine Hülle, sie wagen sich kaum ins Licht. Und da ist eine eckige und kantige Geschichte, die sich kaum berühren lässt und die Welt von sich abzuhalten versucht. Eine andere ist wässrig, braucht einen Rahmen, damit sie sich selbst nicht verloren geht. Und es gibt zarte und weiche Geschichten, wie Flaumfedern – wo haben sie ihren Ort, wo können sie überwintern?

Ob die Vergangenheit der größere Teil ihres Lebens als die Zukunft ist? Sie wissen es nicht. Sie liegen noch da, unverarbeitet, bereit ins Leben zu stapfen, sich einzumischen, sich neu zu gebären. Wer seinen Geschichten nicht folgt, verliert sein Herz… und das wissen sie. Darauf bauen sie. Geschichten suchen sich Menschen, Handlungsträger. Um gelebt zu werden brauchen sie menschliche Herzen, die sie weitergeben. Obwohl Geschichten und das tägliche Brot Gegensätze sind, denn keiner kann Poesie essen…

Einige Geschichten beginnen zu wispern, sie sind noch nicht fertig. Sie wollen nicht nur gesehen, sondern auch gehört werden – zumindest von Anna, die ja ihre Eigentümerin ist. Unterschiedliche Klänge erheben sich, etwas, das wie ein fernes Meeresrauschen klingt, wie zwei Herzen, die aneinander stoßen, etwas, wie klingende Steine, die wie an einem Wasserhahn hinunter rinnen. Am frühen Abend sind Geschichten kostbar. Hinter einer finsteren Nacht liegt der Tod.

Anna staunt, was sie alles vorfindet. Ist entzückt und beglückt, erschreckt und betroffen. Ein Kaleidoskop von Gefühlen durchdringt sie, sie braucht noch mehr Flächen, um ihre Geschichten abzulegen. Manche haben mehr Farben in sich als der Regenbogen, manche teilen Träume aus, Albträume oder Einsamkeit und manche sind kleine Goldstücke im Getriebe, letzte Rosen im Novembersturm, an denen silberne Tränen hängen.

Anna ist umringt von ihren Geschichten, in ihren Gefühlen auch ambivalent. Es ist Nacht geworden, ihre Fenster leuchten in die stille Dunkelheit hinaus. Und plötzlich klingelt es an der Tür. Da kommt jemand, da will jemand herein, und dabei ist sie doch gerade mit ihren verborgenen Geschichten beschäftigt, die nur sie kennt….

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Hiermit möchte ich meine Leserinnen und Leser herzlich dazu einladen, in der Adventszeit ihre verborgenen Geschichten auszupacken und zu erzählen. Kleine Ereignisse, besondere Momente, Träume, Wünsche, kleine Zwischenfälle, Episoden, Zeichen oder Begebenheiten. Gerne auf diesem Blog, umringt von bizarrem Licht, das die Adventszeit uns schenkt – und es brauchen nicht viele Worte zu sein.

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