Einladung zum Klassentreffen. Im 28. Jahr nach dem Abitur. Die meisten haben sich vor 40 Jahren kennenglernt… Was löst das aus? Fahre ich hin? Mache ich, trotz vieler Reisen, noch eine Extra-Schleife über meine alte Heimatstadt und lasse mich auf die Begegnung mit Menschen ein, mit denen ich viele Jahre verbracht habe, die ich aber schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen geschweige denn Kontakt habe?
Ich fahre. Treffe mich am Hauptbahnhof mit zwei alten Freunden und einer alten Lehrerin – die Stimmen am Telefon waren wiederzuerkennen. Und als wir uns sehen ist eins klar: wir wissen fast nichts mehr voneinander, sind uns tief vertraut und gehen damit offenherzig, vertrauensvoll und positiv aufeinander zu. Obwohl die Lebenswege verschachtelt und nicht unbedingt kompatibel sind, ist es wie nach Hause zu kommen.
Der schlanke, hellhäutige Typ im grauen Anzug raucht ununterbrochen. Seine tiefe Stimme und die wohlformulierten Sätze bilden den Gegensatz zu seiner offensichtlichen Nervosität. Auf dem Boden gelandet und im Himmel geblieben. Staunend stehe ich vor ihm, es ist, als ob wir gestern zuletzt miteinander geredet hätten. „Damals“ haben wir viel Zeit miteinander verbracht, philosophisch die Gestalt der Zeit erörtert, versucht, das Leben zu verstehen, haben geredet und geredet und geredet.
Und da ist der andere Typ. Groß und stattlich, ruhig und besonnen. Seine Brillengläser werden heute von einem teuren Gestell getragen. Anwalt sei er geworden, wie seine Frau, vier Kinder habe er, im Elb-Florenz habe man sich niedergelassen, die Midlifecrisis sei vorüber, die entscheidenden Fragen allerdings geblieben. Was haben wir damals fürs Abitur zusammen gebüffelt… Unsere Begegnung ist von Respekt und Wärme getragen. Zeit und Raum werden nicht reichen um wirklich ins Gespräch zu kommen.
Und sie. Die Lehrerin, nur zwölf Jahre älter als wir. Redet drauf los, wie damals. Offen, direkt, frech und doch irgendwie anständig, wohlerzogen. Lachende Augen, ergraute Haare, ihre zerbrechlichen Hände bilden den Gegensatz zu ihrer geformten und ausdrucksstarken Sprache. Wir waren ihre erste Klasse. Sie erzählt von ihren Erlebnissen und Ängsten – damals. Von unserem Wohlwollen, der tiefen Verbindung die wir über das Theaterspielen miteinander eingegangen sind, wir sind uns nah, herzlich nah.
Wie mag ich wohl für die anderen drei erscheinen, wie sehen sie mich, was kommt in ihnen auf?
Und dann kommen wir Vier in der Kneipe an. Und das Hallo hört gar nicht mehr auf. Wir erkennen einander, allerdings sind die Falten und Furchen im Gesicht neu und nicht zu übersehen. Gelebtes Leben. Mein Gott, ist viel Zeit vergangen… Ehen wurden geschlossen und wieder getrennt, eigene Kinder geboren, Kinder von Lebenspartnern dazu genommen, Lebensentwürfe geplant, verworfen, angepasst, berufliche Hürden genommen und immer weiter in der Achterbahn des Lebens gefahren…
Die, die da sind, sind gut drauf. So scheint es. Jeder zeigt sich erst einmal von seiner Schokoladenseite. Nach einer Runde, in der jeder für alle von sich erzählt, entstehen Zweiergespräche. Da kommen dann schon auch andere Themen auf. Verluste, Unsicherheiten, Beschränkungen, unerfüllte Wünsche… Nicht alle haben das Gefühl, dass sie ihr Leben in der Hand haben, aber die meisten machen irgendwie mit.
Wir waren auf der Waldorfschule. Und dort sollten wir zur Freiheit erzogen werden. Mittels einer Bildungsidee, die sich auf den Humanismus bezieht, erfahrungs- und handlungsorientiertem Unterricht und breiten Bildungsinhalten, die möglichst die ganze Welt umspannen sollten. Gegründet waren die Anstrengungen auf die Hoffnung, dass jedes Individuum einen Zugang zu den eigenen Ressourcen findet, um dann, irgendwann, im rechten Moment das Richtige zu tun. Im Klassenverband sollten soziale Fähigkeiten erworben werden, die weit über die persönlichen Möglichkeiten hinausgingen, scheinbare Grenzen sollten zu Schwellen mutieren, die überschritten werden können.
Und, ist das geglückt? Ich glaube, dass es ganz gut aussieht…
Wie aber blicken Lehrer auf ihre Schüler zurück, was waren ihre Motive, dass sie uns unterrichtet haben, was waren ihre Wünsche und Hoffnungen ihrer methodisch-didaktischen Anstrengungen, was waren ihre Ziele? Haben wir ihren Vorstellungen entsprochen, ist aus uns das geworden, was aus uns werden konnte?
Der Austausch war belebend - was haben wir gelacht! - uns gemeinsam erinnert, an Lehrer und ihre Gewohnheiten, an wiederkehrende Situationen, Klassenfahren und Praktika, Rollenzuweisungen und Überraschungen, gemeinsame Bühnenauftritte und schließlich die Abschlussprüfungen… Erstaunlich aber war, dass viele meiner Mitschüler ihre eigenen Kinder nicht auf eine Waldorfschule schicken… Was schlummert da für eine Sorge?
Es wäre gut, sich in einigen Jahren wieder zu treffen und die Fragen zu besprechen, die noch am Horizont geblieben sind.
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