In der großen Erzählung, die Gelehrten nennen es gerne Narration, gibt es an einem Montagmorgen, ziemlich früh, etwas zu bemerken. Einen kleinen Vorfall zu beachten. Ich stehe am Bahnhof einer Kleinstadt. Es ist noch dunkel, die Bahnsteige sind spärlich beleuchtet, überall glitzert Schnee und ein paar arme Kreaturen, mich eingeschlossen, warten in der Kälte auf den Zug, der sie in die große weite Welt bringen soll. Dorthin, wo etwas geschieht – oder eben geschehen soll.
Das Ritual ist nicht neu. Ich gehe immer auf der rechten Seite die Treppe zum Bahnsteig hoch, weil dort das Ende des Zuges halten wird – was mir wiederum beim Umsteigen viele Schritte auf dem folgenden Bahnsteig ersparen wird. Ich kenne die Strecke. Erst stehe ich ein paar Minuten da, immer bin ich zu früh, dann beginne ich auf und ab zu laufen. Es ist eindeutig zu früh am Morgen und zu kalt. Den ersten Espresso erhalte ich erst im ICE, in den ich eine Stunde später steigen werde.
Mittlerweile erkenne ich ein paar Menschen – weil sich die frühe Wartesituation wöchentlich wiederholt. Da ist der junge Mann, der mit seiner Aktentasche immer in Bewegung ist und dabei raucht. Da ist der ältere Mann mit seinem Rucksack, der wie ein Wanderer aussieht und der offensichtlich jede Woche etwas vor hat. Und da sind die beiden Frauen und der Mann, der zu ihnen zu gehören scheint, jedoch immer in zweimetrigem Abstand hinter den beiden steht.
Die beiden Frauen reden immer ununterbrochen. Sie sind beide groß, haben ihre Haare von einem Friseur zurechtlegen lassen, tragen Jeans, dicke Jacken und flache Schuhe. Geschminkt sind sie nicht. Beide haben nur eine Handtasche bei sich. Immer. Sie fahren auch nur eine Station. Das weiß ich mittlerweile. Ich nehme an, dass sie in einer Fabrik arbeiten, die sich gleich beim Bahnhof der nächsten Station befindet, nur 8 Minuten Fahrt.
Wie gesagt, sie reden ununterbrochen miteinander. Ich kenne sie nicht anders. Was es zu so früher Stunde alles zu besprechen gibt weiß ich nicht. Wirklich nicht. Aber sie fallen auf – denn alle anderen sind still. Der Mann steht immer dabei, sagt nie etwas, und trottet am Zielbahnhof hinter ihnen her. Ich nehme an, dass auch er zur Frühschicht gehört.
Dem besagten Morgen ist offensichtlich etwas vorangegangen. Etwas, was mir definitiv entgangen ist. Denn: Als ich die Treppen hochsteige sehe ich die eine Frau schon dastehen. Das ist noch nie passiert. Und ich denke mir, dass die andere vielleicht krank ist oder nachkommt. Der Mann steht mit seiner Sportumhängetasche da. Wie immer. Etwas entfernt. Da mir aber kalt ist, beginne ich meine Wanderungen auf dem Bahnsteig.
Und da sehe ich die andere Frau am anderen Treppenaufgang stehen. Alleine. Die eine hier, die andere dort. Etwa 12 Meter voneinander entfernt. Sie reden nicht miteinander. Schauen sich nicht an. Nein, sie tun beide so, als wenn sie alleine auf der Welt wären. Was um Gottes Willen ist passiert? Zwischen den beiden? Welche Geschichte hat sich ereignet, dass sie sich nun nichts mehr zu sagen haben?
Ich bin erstaunt. Überrascht. Betroffen. Die beiden quatschenden Frauen gehörten zu dem morgendlichen Auf-den-Zug warten. Und jetzt ist die Welt plötzlich anders. Warum nur? Ich habe etwas verpasst. Was für eine Unstimmigkeit gab es? Eifersucht? Einen Streit? Übervorteilung der einen? Beleidigungen? Welche Geschichte hat sich ereignet, dass die beiden sich heute so harsch und entschieden still voneinander abwenden?
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