…und ich bin es, die vor der Tür steht. Irgendetwas in mir hat mir zugeraunt, dass ich in dieser kalten Sternennacht zu Anna gehen solle. Der Weg zu ihr ist beschwerlich, aber da ich ihn auch schon einmal im Licht des Tages hinter mich gebracht hatte, wusste ich so ungefähr, wie ich gehen musste. Welche Pfade, Wege, Straßen einzuschlagen wären – ich folgte dem Ruf, den sie mir auszuschicken schien und stapfte durch die finstere Stadt.
Auf den Straßen fehlten die Menschen. Hie und da ein Licht hinter verschlossenen Fenstern, Beleuchtungen in Schaufenstern, Blinkreklame. Alles schien auf den nächsten Morgen zu warten. Wenn die Telefone wieder klingeln durften, Geschäftszeiten eingehalten werden konnten, wenn der Alltag wieder die Oberhand gewinnen würde und das Leben seinen routinierten Gang nähme.
Und da stand ich nun. Eigentlich wusste ich gar nicht warum. Die Verlegenheit eroberte mich. Es war spät am Abend und wir kannten uns nur flüchtig. Warum hatte ich bei ihr geklingelt? Der verklingende Klingelton der Haustür war das einzige, was zu hören war – außer meinem Herzklopfen, was mein Inneres durchpulste. Auch sie schien überrascht zu sein als sie mich sah und ihre Augen schauten mich fragend an.
Anna schien kurz zu zögern, aber ich durfte eintreten. Für meine Erleichterung war es ein Leichtes, die Verlegenheit zu vertreiben und ich folgte ihr den Flur entlang zu ihrem Wohnzimmer. Und da sah ich es, warum sie gezögert hatte. Und, ich wusste unmittelbar, warum ich gekommen war.
Es waren die Geschichten. Das, was sich zwischen Menschen abspielt, zwischen mir und dir, das, was man Leben nennt. Anna hat einen guten Umgang mit ihren Geschichten, weil sie eine Säule in ihrem eigenen Leben ist. Das wusste ich. Und nun lagen sie alle da, die Ereignisse. Ich sah sie und staunte. Staunte, was es da alles zu sehen gab. Ich wusste, dass sie mich damit unweigerlich in ihre Geheimnisse einweihte, in ihre Innenwelt mitnahm, das Verborgene zeigte.
Anna: Du hast mich gesucht. Hier siehst du mich. Ich habe mich ausgebreitet.
Ich: Dein Leben ist reich und erfüllt.
Anna: Dankbarkeit, Demut und Ergebenheit. Ich habe viel geweint in diesem Jahr. Aber heute sehen alle Geschichten golden aus. Sie glänzen und lassen mich erwachen. Heute Abend kann ich darüber lächeln und die Keime entdecken, die mich in die Zukunft führen.
Ich: Wie schaffst du das? Da sind doch merkwürdige Dinge passiert. Sprechen die Gegenstände zu dir? Die kaputte Tasse, die du so gerne mochtest? Woher nimmst du die Hoffnung? Wie kannst du all das aushalten?
Anna: Du fragst viel. Zu viel. Setz dich. Fragen führen uns. Immer weiter. Sie halten uns in Bewegung. Aber du brauchst Ruhe. Du brauchst eine Antwort. Erzähle mir deine Geschichte. Wir werden etwas darin finden.
Ich: Ich habe keine Geschichten. Ich weiß nicht, was ich dir erzählen soll. Ich bin ganz voll und ganz leer. Es passiert so viel. Und gleichzeitig nichts. Ich bin verwirrt. Kann die Zeichen nicht deuten. Weiß nicht, wo anzufangen, wo hinzugehen…
Anna: Du bist hierhergekommen. Zu mir. Zu meinen Geschichten. Du suchst eine Geschichte. Deine Geschichte. Setz dich. Ich werde etwas Heißes zu trinken machen. Und dann darfst du erzählen.
Stille. Anna hantiert in der Küche. Ich verfluche den Umstand, dass ich hergekommen bin. Was nun? Ich soll erzählen? Keine Fragen stellen? Aber die Ruhe nimmt mich langsam ein, überkommt mich, sie beginnt zu wirken, ich kann mich nicht dagegen sträuben, sie nimmt mich an die Hand, wie eine sanfte Schlaftablette, ich schaue in Annas Geschichten hinein und nehme wahr, dass das geht.
Als ich aufschaue kommt Anna gerade wieder zur Tür herein. Der Ingwerduft macht mich wach. Und ich spüre die Glut der Geschichte in meinem Herzen, weiß, wie ich beginne zu erzählen…
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