Sonntag, 12. August 2012

Dein Geburtshaus: Beständiges und Vergängliches


Auf dem Foto von damals sind nicht nur die Menschen zu sehen, sondern auch das Haus im Hintergrund. Es ist eine alte Schwarz-weiß-Aufnahme, die etwa vor siebzig Jahren gemacht wurde. Die Menschen haben sich für das Foto posiert. Die Hinteren stehen, die Vorderen sitzen, die Kleinsten wurden aus dem Wagen genommen und liegen auf dem Arm der Mutter. Saubere Kleidung, strenge Frisuren. Es ist Sommer. Die Beteiligten lächeln etwas starr in den Fotoapparat.

Und wieder ist es Sommer. Auf dem Foto von heute stehen alle Menschen nebeneinander, sie sind bewegt, wieder steht das Haus im Hintergrund, es ist dasselbe und doch nicht mehr. Die Stimmung ist gelöst, frei, auf den Gesichtern sehe ich überraschte Freude. Es ist eine Buntaufnahme, vor einer Woche gemacht.

Das Haus ist deutlich wiederzuerkennen. Und doch hat es sich sehr verändert, es strahlt nicht mehr. Es ist heruntergekommen. Abgewohnt. Ungepflegt. Der Charme des Ostens weht in alle Richtungen. Es gäbe eine gute Kulisse her. Der Film könnte heißen: „Damals, als die Welt noch anders war…“ Und dennoch: Prächtig und stolz erhebt sich aus dem steinernen Sockel der hölzerne Oberbau. Groß und herrschaftlich präsentiert es Fenster, Nischen, Balkone, Türen und Gauben.

Großzügig steht es in der Welt und hält Abstand. Weite und freiheitliche Luft umgibt es. Hinter dem Garten der Bach, dann der Wald. Hier konnte formvollendet und großzügig gelebt werden. Damals. Mit Gärtner, Kutscher (Wagenpfleger!), Kindermädchen, Köchin… Lang ist es her und doch entstehen nicht nur Bilder sondern Szenen, Abläufe – Lebendigkeit eben. Da war mal etwas.

Und heute? Noch immer versucht der Bach hinter dem Haus seine Lieblichkeit zu preisen, Leichtigkeit hervorzuzaubern, den Eindruck von Unbeschwertheit zu vermitteln. Aber es gelingt nicht mehr. Der Zahn der Zeit hat genagt. Obwohl die Sonne gleißend hell und unerbittlich heiß vom Himmel herunter strahlt, wirkt das Gelände tot, verlassen, ja fast vergessen.

Das Haus gibt äußerlich wenig davon preis, was im Laufe der siebzig Jahre genau geschehen ist. Aber es sieht traurig aus, ja sogar erbärmlich. Nur noch das Gerippe steht. Das Leben fehlt, stolze Menschen, die etwas vorhaben und etwas präsentieren… Es ist zu still hier, ja fast staubig. Mit den beiden Tschechen können wir uns nur rudimentär unterhalten. Sie kennen die Geschichte nicht…

Wir haben lange gesucht. Bis wir das Haus gefunden haben. Schließlich haben wir einer alten Tschechin das alte Foto gezeigt und gefragt, ob sie das Haus kenne. Sie erkannte es sofort und sagte in tadellosem Deutsch: „Das Pannitschka-Haus, nu ja natürlich, da müssen sie vor dem Bahnhof rechts abbiegen. Dann fahren Sie darauf zu!“

Es ist dein Geburtshaus. Hier hast du das Licht der Welt erblickt, hier hast du deine ersten Jahre verbracht. Und vor allem ist es das Haus, in dem meine Großeltern etwa zwanzig Jahre gelebt haben. Schon bevor die Kinder auf die Welt kamen und das große politische Würfelspiel begann. Wen würde es nach dem Krieg wohin verschlagen haben? Es scheint nicht so, als ob sich damals jemand eine Veränderung vorstellen wollte.

Die lange Besiedlungs- und Kulturgeschichte der Landstriche Böhmen und Mähren nahm 1945 abrupt ein Ende. Tschechen und Deutsche wurden gnadenlos voneinander geschieden, die Wurzeln gekappt, Rache wütete. Innerhalb von kurzer Zeit musstet ihr alles hinter euch lassen, ein neues Leben aufbauen. An einem anderen Ort.

Später, viele Jahre später habt ihr den Gärtner im Westen wiedergetroffen. Dieses Mal konnte er euch helfen. Die Verhältnisse haben sich umgedreht. Viele Fragen bleiben offen. Aber das Haus steht, überdauert die Zeit. Es ist beständig. Das, was darin geschah aber offensichtlich vergänglich.

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