Sonntag, 29. April 2012

Begegnung. Von Schreibern, Lesern, Texten und der Stille zwischendurch


Gibt es Leserinnen und Leser, die einen Text erwarten? Die nach einer dunklen Nacht erwachen und daran denken nachzuschauen, was es Neues gibt? Noch gibt es keinen Text, über den sich Schreiber und Leser begegnen könnten. Das Internet ist zwar virtuell, aber es braucht doch materialisierte Buchstaben. Der Text schwebt noch im Vagen, Nicht-greifbaren, er ist noch nicht in Reichweite. Und in der Seele des Schreibers mäandern die verschiedenen Themen.

Er schaut auf Anna und nimmt ihr Diktat auf, um zu prüfen ob sie das Thema seines Textes bereithält:

„Der Morgen ist still und bildet in meiner Seele einen Kreuzungspunkt. Was gestern war ist der Vergangenheit anheimgefallen, was morgen kommt ist noch hinter dem Schleier des Zukünftigen verborgen. Mir zu Gebote steht die Gegenwart, das Jetzt, der gegenwärtige Moment, der sich mir anbietet und etwas von mir will.“

Anna spricht weiter: „Ich spüre es unmittelbar, ich möchte erzählen, dir mein Leben diktieren. ‚Still‘ und irgendwie ohne Worte will ich davon erzählen, was in mir lebt, was ich erlebe, worauf ich zulebe. Möchte meinen Wünschen, Hoffnungen und Ängsten begegnen und sie teilen, sie aus mir heraussetzen. Ihnen einen Geleitschutz geben, von innen nach außen, um sie dann neu anzusehen und ihnen wieder zu gestatten, sich hinter die Tür des geschützten Innenraums zu begeben.

Ich will an meinen Traum anknüpfen, den ich in der Nacht gehabt habe. Ich saß in einer Prüfung. Es ging um eine schriftliche Klausur im Fach Chemie. Ich musste Begriffe und Zusammenhänge erklären. Und konnte es nicht. Hatte mich seit Jahren nicht mehr mit so einem Thema beschäftigt und war komplett ratlos, wie ich aus dieser unangenehmen Situation wieder herauskommen könnte. Ich versuchte beim Nachbarn abzuschreiben. Aber seine Schrift ließ sich nur schwer entziffern.“

Dem Schreiber wird es schwer ums Herz und er schaut auf Sirka. Was sie wohl zu sagen hat? Er übersetzt ihre stockenden Worte, die sie leise aber überzeugt von sich gibt:

„Tag für Tag komme ich meinem Tod näher. Zeitlich entferne ich mich immer weiter von meiner Geburt. Der Zenit ist überschritten, der Bogen neigt sich. Ob es Tage, Wochen, Monate oder Jahre sind, die mich von dem Punkt der Umstülpung abhalten, weiß ich nicht. Die geistige Welt scheint mir eine warme Heimat zu sein, in der ich mich daran gewöhnen muss, dass es keine Farben gibt.

Hier im Garten blühen Blumen und Vögel singen. Alle Sinne bekommen Geschenke. Die Sonne strahlt auf jeden herab, schenkt ihr Licht und ihre Wärme und kreiert damit eine frühlingshafte Wirklichkeit. Ich bin ein Gast auf dieser Welt, so wie jeder und ich weiß nicht, ob ich mich gut genug einfüge, um noch ein Weilchen zu bleiben.

Die Wunde ist präsent und offeriert täglich eine Dunkelheit. Sie fehlt sich selber, sieht die Goldspur darin nicht. Hin-sterben, nach-sterben, so wie es Novalis getan hat. Den Schmerz preisen, würdigen, ihm den ersten Platz verleihen“ – beginnt sie ihr Statement zu diesem Tag.

Nun schaut der Schreiber, ob der Melancholie leicht irritiert, auf Juri, der strahlend auf der Wiese sitzt und fragt ihn, wie es denn heute um ihn bestellt sei, ob er ein Thema für ihn habe:

„Auch wenn wir glauben, dass das Schicksalsnetzwerk etwas sei, woran es sich festhalten ließe, so muss dem Umstand doch Rechnung getragen werden, dass es ständig in Bewegung ist und dass sich somit alle Beteiligten immer wieder neu positionieren müssen. Es geht nicht um irdische, sondern um ätherische Festpunkte, die ihrer Logik folgen, und sich meistens der menschlichen Intelligenz entziehen“ – beginnt er zu proklamieren.

„Wenn ein Einzelner aus dem Gefüge gerät, zum Beispiel in dem er vorzeitig stirbt, bleibt ein Loch, ein leeres Loch, denn der Verstorbene ist nicht ersetzbar. Weil er doch einmalig ist – vergiß das nicht! Gleichzeitig ist es aber so, dass seine Rolle, seine Funktion, seine Aufgabe von anderen übernommen werden müssen, da die Welt in ihrem Fortgang nicht innehält, sondern sich unerbittlich weiter dreht. Wir müssen einander tragen und ganz viel voneinander wissen!“ – ruft er und ist dabei verzweifelt entrückt.

Das Herz des Schreibers wird schwer. Die Themen seiner Nächsten sind dunkel. Er will darüber nicht schreiben. Will sich weder eine Frühjahrsdepression einhandeln, noch versuchen tonnenschwere Wahrheiten zu entschlüsseln. Der Schreiber beschließt zu schweigen und wartet ab, was die Leserinnen und Leser zu seiner Stille sagen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen