Samstag, 5. Mai 2012

Geben und Nehmen. "Häuser der Solidarität"


Zwei über neunzig jährige Männer schreiben ein kleines Buch. Sie analysieren in kurzen und klaren Zügen die gegenwärtige Gesellschaft und Politik und beschreiben Lösungs- und Veränderungsvorschläge für die aktuellen Krisen: „Wege der Hoffnung“ von Stephane Hessel und Edgar Morin. Die Autoren bieten konstruktiv und gnadenlos eine Zukunftsperspektive an und machen dabei deutlich, wo die Schnittpunkte sind und dass jeder von uns seinen Beitrag zu leisten vermag – so einfach ist das!

Die Worte der beiden Männer beeindrucken mich tief. Das neue Büchlein ist eine Fortführung von „Empört euch“ und „Engagiert euch“ von Stephane Hessel. Und ich glaube seinen Worten sofort. Der Text hat eine aufweckende und entzündende Wirkung auf mich. Beeindruckend ist, dass die beiden alten Herren, obgleich sie in den Abgrund unserer Gesellschaft schauen, und die herrschenden Verhältnisse nicht beschönigen, Licht am Himmel sehen und zum Ausdruck bringen, dass die „Welt, mitsamt ihrer Menschheit noch zu retten sei“.

Den beiden Autoren geht es um die Vision einer menschlicheren, gerechteren Gesellschaft und um eine Erneuerung von gesellschaftlichen Strukturen. Ihr Ausgangspunkt sind die "vier geistigen Quellen der Linken". Diese Quellen sind: eine freiheitliche (Selbstbestimmung des Einzelnen), eine sozialistische (für eine Gesellschaft der Gerechtigkeit), eine kommunistische (Brüderlichkeit der Menschheit) und eine ökologische Quelle (Rückbindung an die Natur).

Über jedes einzelne Kapitel ließe sich eine kontroverse Abhandlung schreiben. Ich wähle mir den folgenden Satz, der mich unmittelbar trifft. Ich lese: „Die „Häuser der Solidarität“ wären somit Mittelpunkte sowohl der Freundschaft wie auch konkreter Hilfe mit mehrfachem Auftrag. Sie würden Initiativen, Mediation, Verständnis, Zuwendung, Hilfe, Information, ehrenamtliche Tätigkeit und Bereitschaftsdienste bieten.“ (S. 32)

Der Gedanke, dass jedes „Problem“, persönliche und damit allgemeinmenschliche Fragestellungen, die Ecken und Kanten, Höhen und Tiefen des Lebens sowohl gesellschaftlich akzeptiert sind als auch, dass mit ihnen produktiv, wertschätzend und zukunftsorientiert umgegangen wird, bringt Vertrauen in das Leben. Schenkt Energie, Mut und Kraft – und das können wir, so glaube ich, ganz gut gebrauchen.

Ich stelle mir vor, dass sich in den Häusern der Solidarität Menschen treffen, die etwas geben können oder etwas zu nehmen suchen. Es sind offene Orte, die einen Knotenpunkt bilden. Hier treffen Menschen aufeinander und somit Probleme, Fragen, Unklarheiten, Unsicherheiten – und genauso Lösungen, Antworten, Klarheiten und Sicherheiten.

Die Seele des Menschen ist bekanntlich der Ort, an dem sich sowohl Zerwürfnisse als auch Bindungen ereignen, Hoffnungen sichtbar werden oder sich hoffnungslose Abgründe öffnen, dort kann es warm oder kalt werden, dort wird Vertrauen oder Misstrauen gesät. In den „Häusern der Solidarität“ scheint es mir darum zu gehen, auf diesem Feld aktiv zu werden und einander zu begegnen, zu begleiten und Betroffenheit zuzulassen.

Ich stelle mir vor, dass ich mich als Gebende in den Dienst eines „Hauses der Solidarität“ stelle. Dass ich mich für die Belange meiner Mitmenschen weit mehr öffne als bislang. Und genauso stelle ich mir vor, dass ich als Nehmende den Dienst eines „Hauses der Solidarität“ in Anspruch nehme. Dass ich mich mit meinen Wunden zeige und mich in einer kleinen Gruppe auf den Weg mache, meinen Weg zu gehen.

Ich nehme des Weiteren an, dass sowohl Bernard Lievegoed sich über diesen Impuls von Hessel und Morin freuen würde, denn er hat schon in seinem Buch „Über die Rettung der Seele“ darüber gesprochen, dass die Gegenkräfte alles daran setzen werden den Menschen bis zur völligen Kontaktlosigkeit zu vereinsamen und angemahnt, dass es darum geht, Menschen sich „wirklich“ begegnen zu lassen als auch Jelle van der Meulen, der darum bemüht ist, einen Beitrag an die Entstehung einer „Kultur des Herzens“ zu leisten (siehe: www.jellevandermeulen.blogspot.com) und immer wieder darüber schreibt, was es braucht, um aus dem „Kampf des Lebens“ herauszukommen und eine „Kunst des Lebens“ zu etablieren.

…denn, das „Wohlergehen [der Menschheit] setzt voraus, dass der Einzelne sich in der Gemeinschaft entfalten kann. […] und wahrhaft zu leben bedeutet, poetisch zu leben!“ (S. 30) wie es Hessel und Morin so schön formulieren.

(Hessel, Stephane und Morin, Edgar: Wege der Hoffnung. Ullstein Verlag, Berlin, 2012)

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