Jeden Menschen umgibt ein Netzwerk, ein Schicksalsnetzwerk. Jeder von uns trägt andere Menschen mit sich (und wird von ihnen getragen). Die Art der Beziehung ist unterschiedlich – so wie auch das persönliche Schicksal individuell ist. Ich habe mein Netzwerk und du hast dein Netzwerk – ein jeder von uns ist von Schicksalen umgeben und durchdrungen, die ihm oder ihr mehr oder weniger nah sind und eine Auswirkung auf das persönliche Leben haben.
In meinem Schicksalsnetzwerk hat es einen Ruck gegeben, eine plötzliche Veränderung. Ein lebender Freund hat sich in einen verstorbenen Gefährten transformiert. Er gehört weiterhin in mein Netzwerk, befindet sich aber nun unwiderruflich in einer anderen „Abteilung“. Er gehört nun zu meinen „Verstorbenen“, meinem Sternenhimmel und nicht mehr zu denjenigen, die ich mal schnell behelligen kann. In meiner irdischen Begrenzung stehe ich nun ohne ihn da.
Ein irdisches Schicksalsnetzwerk hat etwas Statisches und Beständiges sowie etwas Dynamisches und Dramatisches zugleich. Wenn ich es beschreiben sollte, so brauche ich die Höhe und die Tiefe, die Weite und die Nähe, Länge und Kürze, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Geistiges, Seelisches und Physisches, das Horizontale und das Vertikale, Licht und Dunkel, Leichtigkeit und Schwere, Zeit und Raum und viele, viele Farben.
Meistens sind es sanfte Bewegungen, die sich in diesem Netz vollziehen – manchmal aber auch ruckartige. Ich lerne einen Menschen kennen, wir befreunden uns, arbeiten miteinander oder haben auf irgendeine Weise miteinander zu tun und dieser Mensch erobert sich dann einen Platz in meinem Netzwerk. Auch mein Zutun spielt dabei eine Rolle. Alle meine Beziehungen haben einen Ort in meinem Netz, so wie ich einen Ort im Netz von meinen Mitmenschen habe.
Möglicherweise bewegt sich ein neuer Schicksalsgefährte langsam von der Peripherie in den Mittelpunkt meines Netzwerkes. Manche Verbindungen bleiben aber auch tangential, peripher. Manche befinden sich lange im Außenraum und bewegen sich nach innen, oder sie sind im Innenraum und bewegen sich auswärts. Bei manchen wechseln Intensität, Bedeutung und zeitliche Dauer.
Da wäre zum einen die Sphäre der Verwandtschaft und Familie zu nennen. Die Verbindungen sind gegeben und nicht frei wählbar. Wie diese Gegebenheiten allerdings gelebt, erlebt und belebt werden, ist in unsere Freiheit gestellt. Wir sitzen gemeinsam im Boot des Erb- oder Familienstroms, der Herkunft und Zusammengehörigkeit – ob wir wollen oder nicht. Wenn ich mich umschaue, so sehe ich sehr unterschiedliche Familien- und Verwandtschaftsstrukturen.
Und da ist zum anderen die Sphäre der Freundschaft und Feindschaft. Ihre Provenienz ist Sympathie und Antipathie, Vertrauen und Misstrauen, Nähe und Distanz, Freude und Leid. In dieser Sphäre spielt das Bedürfnis nach Nähe und Austausch die Hauptrolle, sie dirigiert, lässt Innenräume entstehen, delikate Themen in vertrauensvoller Weise sichtbar werden und beschäftigt uns manchmal Tag und Nacht. Auch in dieser Sphäre können Wunden geschlagen und unermessliche Abgründe geöffnet werden.
Einen anderen Geschmack hat die Sphäre der Arbeitsbeziehungen und Kollegenschaft, sie bewegt sich im Bereich des Tagesgeschäfts. Hier sind die Fähigkeiten des täglichen Lebens gefragt, es werden gesellschaftliche, kulturelle oder wirtschaftliche Taten gedacht und vollbracht, die über den eigenen Horizont hinausgehen. Es handelt sich um das Netz, das auf gesellschaftspolitischer Ebene über der Erde und um die Erde herum geknüpft wird.
Ja und dann gibt es noch die Sphäre der Ideen, Lehrer und der geistigen Ausrichtung. Sie hat ihre Quelle im Himmel, sie kommt von oben und muss das Nadelöhr finden, durch das sie den Einzelnen erreichen kann. Wenn diese Sphäre aber zum Netz dazu gehört, dann beherbergt es einen geistigen Schatz, der sich über Zeit und Raum des Einzelnen hinaus bewegt. Hier spielt die innere Ausrichtung, Religion, Geistesströmung oder Selbstverständnis des eigenen Lebens eine Rolle.
Und das gilt auch für die Sphäre der Ungeborenen und Verstorbenen, die uns umgibt - sie sind immer da und doch noch unterwegs oder schon gegangen. Auch sie können Raum und Zeit überwinden und melden sich, wenn wir aufmerksam sind, hie und da dezent zu Wort. Gerne zeigen sie sich in Träumen, Ahnungen, Eingebungen oder plötzlichen Stimmungen.
Ich habe einen irdischen Freund verloren und einen verstorbenen Gefährten gewonnen – daran muss ich mich erst gewöhnen. Mal sehen, ob ich die Offenheit habe zu beobachten, wie sich diese Verschiebung in meinem Leben auswirken wird. Mein Schicksalsnetzwerk bleibt zwar in seinem Ausmaß beständig, in seiner Feinstofflichkeit bewegt es sich aber. Manchmal finde ich das nicht so einfach.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
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