Samstag, 14. April 2012

Kriegsenkel sein als Schicksal (VI). Über das Ankommen eines Themas in der Gesellschaft

Eine Woche vor Ostern kamen an der Göttinger Universität ca. 140 Menschen zusammen, die sich mit dem Thema „Die Kinder der Kriegskinder“ auseinandergesetzt haben. Die „Gesellschaft für Psychohistorie und politische Psychologie“ (GPPP) hatte zu einem Kongress eingeladen. Das Programm versprach abwechslungsreich zu werden: Berichte von Betroffenen sollten Beiträge von Fachleuten - Psychologen, Therapeuten, Historikern, Erziehungs- und Literaturwissenschaftlern, Theologen, Schriftstellern, Ärzten und Soziologen – ergänzen und bereichern.

Und, um es vorneweg zu sagen: Das ist gelungen! Ein dichtes Programm lenkte den Blick von Aspekt zu Aspekt. Es war, als wenn sich einzelne Blumen in ihrer Vielseitigkeit nacheinander zeigten. Zwischen den Vorträgen öffnete sich dann der ganze Strauß, die Zuhörenden wurden zu Beteiligten. Die Beiträge waren ernst und nicht selten von emotionaler Betroffenheit geprägt. Die Thematik zeigte sich weit und groß und reichte bis tief in die Erde hinein – scheinbar Vergangenes zeigte sich in heutiger Präsenz.

Interessant war der Umstand, dass auch die „Fachleute“ in irgendeiner Form betroffen waren und nicht darum umhin kamen, sich selber in Beziehung zum Thema zu setzen. Jeder der Anwesenden hatte auf irgendeine Art und Weise mit den Kriegen im letzten Jahrhundert zu tun. (So wie jeder Mitteleuropäer!) Diese Erkenntnis ist zwar prinzipiell nicht neu, die Bedeutung dieses Umstandes kommt aber erst in den letzten Jahren zum Vorschein und wurde auf der Tagung von allen Seiten betrachtet. Was für Erlebnisse oder Familiengeschichten tragen wir da mit uns herum – und vor allem, was machen sie mit uns?

Die Kriegskinder (geboren zwischen 1935-1945) sind heute Rentner und nicht selten erreichen sie die inneren Bilder, Erlebnisse und oft auch Schrecken ihrer Kindheit wieder. Zeit für Aufarbeitung gab es in den Jahren der Familiengründung und Berufstätigkeit nicht. Das Leben wurde gelebt, so gut es ging. Nicht selten wurden neue „heile Welten“ geschaffen, und (Über-)Lebensstrategien und -strukturen entwickelt, die auf den Trümmern der eigenen Kindheit aufgebaut waren und doch alles vergessen machen sollten – schließlich sollten es die Nachkommen besser haben.

Aber die Kriegsenkel, die Kinder der Kriegskinder (geboren zwischen 1960-1970), merken heute, dass sie eine nicht greifbare Last mit sich herumschleppen. Sie sind diejenigen, die in Therapien darauf stoßen, was das Kriegsgeschehen ihnen und ihren Familien unbewusst aufgebürdet hat. Sie werden mit der Frage konfrontiert, woher ihre „Heimatlosigkeit“ stammt, ihr gutes Organisationstalent (nichts vergessen, immer alles dabei haben!), ihr Gefühl fremd oder anders zu sein, ihre Unruhe, ihre Suche nach Lebensort, nach Berufstätigkeit (Berufung?), ihre Frage nach Bindungsfähigkeit und eigener Identität…

Kriegsenkel sein ist ein Schicksal. Ist ein Erbstrom, in den man sich hineinbegeben hat, ein Nadelöhr, durch das das eigene Leben einen Weg finden kann, ist eine Bürde, die getragen und liebevoll anerkannt und transformiert werden will. Zum Kriegsenkel sein kann man sich nicht entschließen, es geht nicht um eine Willensintention, sondern es handelt sich um einen vorgeburtlichen Entschluss, dieses Thema mit in das eigene Lebensboot zu nehmen. Was die Tagung sichtbar gemacht hat, ist das Netzwerk, das Schicksalsnetzwerk von Kriegsenkeln – die sich nun in Göttingen getroffen haben.

Eine Fähigkeit, die diese Schicksalsträger mitbringen, ist die Möglichkeit der Vernetzung (was via Internet schon begonnen hat, z.B. www.forumkriegsenkel.de) und eine Ideologiefreiheit, die es möglich macht, über die Kategorien von Tätern und Opfern, Feinden und Freunden, Richtig und Falsch, Gut und Böse hinaus zu gehen, um die Schätze der Vergangenheit in selbstgewählte Freiheiten der Zukunft zu verwandeln.

Bis diese Arbeit individuell und gesellschaftlich geleistet sein wird, bedarf es vieler Möglichkeiten der Auseinandersetzung. Allein, zu zweit, in Gruppen, auf Kongressen und in der Literatur. Unsere Gesellschaft ist um ein schlummerndes Thema bereichert worden, das langsam aus seiner Versenkung erwacht und Orte und Handlungsträger in individueller Ausprägung und Fragestellung zusammenführt. Wer hat zu dem Thema etwas beizutragen?

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