Ich bin in Berlin. Und sitze am Schreibtisch. Hinter mir höre ich gedämpft Stimmen in der Wohnung, Kinder spielen. Ich will schreiben. Die Tür hinter mir ist geschlossen. Neben mir steht eine Tasse Espresso. Vor mir ist das Fenster. Ein hohes Fenster. So wie das in Berliner Altbauwohnungen oft der Fall ist. Es ist kalt, grau und nass draußen. An den weit verzweigten Ästen des Baumes hängen Regentropfen. Sie glitzern fast wie Weihnachtssterne. Manchmal fällt einer herunter.
Hie und da fährt ein Auto vorüber. Die Kombination von Kopfsteinpflaster und Autoreifen lässt ein spezifisches Geräusch entstehen. Wohin die Menschen wohl fahren? Die feuchte Luft vertreibt die Menschen vom Außen- in den Innenraum. An der gegenüberliegenden Fensterfront sehe ich erleuchtete Fenster. Was geschieht dahinter? Genau auf meiner Höhe sehe ich schemenhaft eine Frau an einem Tisch sitzen. So wie ich.
Ich bin in Berlin. Und gehe zu Gerhard Richter. Es ist kalt. Ich stelle mich in die lange Schlange der kunstbeflissenen Menschen, die alle in die Ausstellung wollen. Die Warteschlange windet sich um das Gebäude. Dann endlich ist es soweit. Es ist noch früh am Morgen. Erwartungsvolle Stille liegt in der Luft. Die Bilder von Richter. Groß. Heftig. Wie kann man nur so unterschiedlich malen?
Ich schlendere an den Gemälden und Installationen vorbei, um einen Überblick zu bekommen. Die Bilder sprechen eine deutliche Sprache. Still und eindringlich. Zum einen rufen sie Zeitgeschichte auf. Zum anderen gehen sie weit darüber hinaus. Momente. Ganz besondere Momente werden präsentiert. Es zieht mich immer wieder zu einem Bild. Abstrakte Malerei. Mit einer unglaublichen Tiefe. Die Welt ist schön.
Ich bin in Berlin. Und fahre mit dem Fahrrad durch Kreuzberg. Die Sonne scheint und es ist viel los. Auf den Straßen. Überall Menschen, Autos, Busse. Die Lebensader pulsiert. Jedes Schaufenster lädt dazu ein, angeblickt zu werden. In Kreuzberg gibt es keine Hamburger, sondern Kreuzburger. Falafel aus tausendundeiner Nacht. Süße Verbote. Es ist fast wie auf einem Basar. Hier leben die Menschen auf den Straßen. Ich schiebe mein Fahrrad und lasse mich treiben.
Ich höre verschiedene Sprachen. Die Welt scheint hier vertreten zu sein. Ich staune. Fühle mich aufgenommen. Im Strom der Zeit, im Raum des Lebens. Jeder darf hier sein. Und nicht nur hier sein. Sondern sein. Das Miteinander ist kreativ. Dunkle Abgründe glänzen heute in der Frühlingssonne. An der Oberfläche geht es. Damit gehe ich weiter. Beobachte Menschen. Lasse mich auf das Durcheinander ein.
Ich bin in Berlin. Es wird immer stiller. Wir gehen auf Karfreitag zu. Die ganze Stadt ist voller Osterhasen und bunter Ostereier. Die Blumenläden quellen über: Narzissen und Tulpen aus Holland. Meine Seele sperrt sich dagegen. Ich fühle mich eher an wie ein Regentropfen, der an einem Ast hängt und die Welt von oben betrachtet. Es wird einen Moment geben, in dem dieser Tropfen sich dazu entschließt, seinen Platz zu verlassen und mitzumachen – aber noch ist er nicht gekommen…
Dafür müssen wir erst den inneren Abgrund durchschreiten: sitzend, staunend und flanierend. Möge es danach Ostern werden.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
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Wort und Wort
Hilde Domin
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