Die Nacht entlässt mich mit einem diffusen Gefühl der Ungewissheit: Was gehört in die geistige Welt, was gehört auf die irdische Welt? Ich versuche den Klang meines Herzens zu hören, ihm nachzuspüren. Aber mich bedrängen Gedanken. Gedanken wie von Gespenstern geschickt: kühl, unsichtbar, beunruhigend. Ein fahles Gefühl der Unwägbarkeit umschwingt mich. Ich brauche eine Kerze, ich brauche einen Lichtpunkt, der in mein Inneres dringt, der mir Halt gibt.
Ich schaue in das Licht der Kerze, die neben deinem Bild brennt. Ich sehe dein Lächeln, deinen Blick in die Kamera der mir suggeriert, dass du mich anschaust. Dein Lächeln erstarrt in mir. Neben deinem Bild steht die Todesanzeige. Darin stehen die Daten klipp und klar. Dein Leben hier auf der Erde ist beendet. Das atmende Schwingen von Augenblick zu Augenblick muss sich transformieren. Das, was wir bisher kannten, am Leben des Anderen teilzunehmen, uns zu treffen, miteinander zu sprechen, Anteil zu nehmen, kann so nicht weitergeführt werden.
Deinen toten Leib habe ich gesehen. Er bleibt hier auf der Erde – von Rosen umkränzt. Du, so heißt es, seist nun in der geistigen Welt. Dort, im großen, unendlichen Sein. Dein Leben „nachbereitend“, Abschied nehmend, und dann, irgendwann, wieder „vorbereitend“, dich erneut der Erde nähernd. Wie das wohl sein muss, so ohne Körper? Ganz im Seelisch-Geistigen? Ich merke, dass ich gedanklich an Grenzen stoße, mein Herz empört sich, ich möchte dich gerne wiedertreffen.
Mein Tag ist ganz durch das irdische Leben geprägt. Mein Körper braucht Wärme, Nahrung und Bewegung. Meine Seele braucht Menschen, Vorhaben, Sinn. Und mein Geist sucht nach den Zusammenhängen, nach lebendigen Begriffen, nach einer Einbettung. Tage und Nächte wechseln einander ab, manchmal sanft, manchmal stürmisch, einsam oder gemeinsam, getragen vom irdischen Leben.
Was ist der Tod? Du bist weg und du bist da und ich bin irritiert. Aus meiner Spur geworfen worden. Was von Bedeutung ist sind Erfahrungen, Erlebnisse, daran kann ich mich halten. Was aber auch Aufmerksamkeit verlangt sind die Gefühle, die als Zeichen am Wegrand des Tages in die Nacht mitgenommen werden. Gefühle des Verloren seins, des Aufgehoben seins, der Begrenzung. Gefühle der Demut vor dem Leben und der Achtung vor dem Tod.
Ich höre deine Stimme. Deine Stimme, die nie wieder sprechen wird. Wie ist das zu denken, was passiert da? Ich erinnere mich an gemeinsame Zeiten. Wärme und Schmerz wechseln einander ab. Ich „kannte“ dich nur in deiner „Verleiblichung“ – habe ich überhaupt Zugang zum Großen, zum Ganzen? Zu dieser offenen Zukunft, die nur wie eine große und sanfte Ahnung zu erspüren ist und geistig unsäglich weit vor uns liegt?
Deine Tage auf Erden waren gezählt, so, wie sie für uns alle gezählt sind. Aber wir wussten es nicht, wir wissen es nicht, wir haben keine Handhabe in diesem Bereich. Ich ertrage die Tage nur mit Musik, nur mit dem Prayer von Ernest Bloch (aus dem Zyklus: From Jewish Life). Die letzten Novemberblüten schwinden in diesen Tagen dahin und leiten zu den klaren und kalten Sternennächten in der Adventszeit über.
Möge die Er-wartung dazu führen wieder eine physisch-seelisch-geistige Einheit zu werden. Wir gehen auf Weihnachten, auf die Geburt schlechthin zu, der – irgendwann – wieder ein Tod folgen wird.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
Wenn das Leiden so "schön" erzählt ist dann ist es Balsam und nicht nur für die ErdenWesen.
AntwortenLöschenJosiane
Herzlichen Dank. Schön wie Gedanken und Gefühle zu Hause sind in den Worten.
AntwortenLöschenDer Text war tröstreich für mich.
Wim Maas(Venlo, Holland)