Anna ist ein Kind und sitzt auf der Küchenanrichte vor der Fensterfront. Sie schaut hinaus. Da sie sich in einem hohen, neuen, grauen Hochhaus befindet, hat sie einen weiten Blick. Sie sieht den Friedhof, dahinter das Opel-Werk. Das Werksgelände wird von riesigen, roten Backsteingebäuden gegliedert, darum herum stehen viele, viele Autos – ordentlich sortiert. Aus Annas Blickwinkel sehen sie wie Spielzeugautos aus.
Die Wohnung ist großzügig geschnitten, der Hochhauskomplex eine Neuerung gegen Ende der 60er Jahre. Wohnen, arbeiten und leben gehen ineinander über. Universität, Einkaufszentrum und Lebensräume sehen gleich aus. Grauer Beton – Hochhäuser. Hier trifft sich die junge aufgeschlossene Akademiker-Generation, die an der Basis des proletarischen Lebens gesellschaftliche Erneuerungen diskutiert. Hier, in der neu entstehenden Betonwüste, ist die gedankliche Quelle für ein zukunftsweisendes Leben nach der Katastrophe der beiden Weltkriege, hier werden gesellschaftliche Entwürfe konzipiert – alles wird anders, neu und besser.
Als Anna die Wohnung durchquert hat, steht sie auf dem kleinen Balkon. Sie kann gerade über die Betonbrüstung schauen. Sie sieht weitere Hochhäuser, dazwischen gepflasterte Wege auf denen man mit Mühe Rollschuh fahren kann, und kleine abgezäunte Wiesenstücke, auf denen manchmal ein Schild steht: Betreten verboten. In der Siedlung bewegt sie sich frei. Dort fahren keine Autos. Überall sind Kinder unterwegs und es gibt verschiedene Fraktionen, Clubs und Gangs.
Anna spürt, dass das Lebenskonzept ihrer Familie nicht mit allen anderen übereinstimmt – hier treffen Welten aufeinander. Sie soll zum Beispiel nicht weitererzählen, dass die roten Plakate, die überall auf ihrem Schulweg an den Wänden kleben, von dem Netz um ihre Eltern in einer nächtlichen Aktion „geklebt“ wurden. Nachdem sie aus dem antiautoritären Kinderladen in die gemeine Grundschule kommt, wird sie mit Lebensentwürfen anderer konfrontiert. Da sie das älteste Kinderladenkind ist, kommt sie „alleine“ in eine Klasse in der Grundschule, dort findet sie zwei neue Freundinnen.
Die eine heißt Kerstin. Sie kommt aus einem gutbürgerlichen Elternhaus. Die kleine Anna staunt, dass sie die Eltern mit einem Sie anreden soll. Hier gibt es Blumentapeten an den Wänden. Ein Wohnzimmer aus Eiche, Sessel und Sofas mit drapierten Wohnzimmerkissen darauf. Am Sonntag Sauerbraten, Rotkohl und Salzkartoffeln. Auch geht man in die Kirche und zieht über die politischen Unruhen her, schimpft über Plakate, die überall hin geklebt werden. Anna spürt, dass es sich hier um ein gänzlich anderes Lebenskonzept handelt. Ihre Eltern scheinen diese Familie nicht besonders zu schätzen.
Die andere Freundin heißt Silvia. Sie lebt mit ihrer Mutter und ihren zwei Schwestern in einer kleinen Sozialwohnung. Abends geht die geschminkte Mutter, nachdem sie tagsüber die Wohnungen begüterter Familien geputzt hat, in die Trinkhalle um „noch ein bisschen Spaß“ zu haben. Anna hört hier Worte wie „Stubenarrest“ und Phrasen wie „darf ich nicht, hat Mutti verboten“ zum ersten Mal. Hier wird derbe geschimpft und die Mädchen müssen spuren. Rauchen, Biertrinken und abends mit einem Mann flirten – das sind lebenswerte Ziele.
Auch diese Familie gehört nicht zu den ebenbürtigen Gesprächspartnern von Annas Eltern. Jedoch bekommt sie für diese Freundschaft Unterstützung, denn „dem Proletariat“ müssen ja die Augen geöffnet werden – hier liegen die Keime für den gesellschaftlichen Umsturz. Bevor Anna am Abend zu Bett geht, wird beim Abendbrot mit Freunden der Eltern noch lautstark über „reaktionäre Bullenschweine“ diskutiert. Annas Eltern wissen wo es lang geht. Sie haben das richtige Verständnis für den gesellschaftlichen Umsturz.
Doch am nächsten Morgen sieht die Welt anders aus. Auf dem großen Parkplatz vor den Hochhäusern wurde ein Serieneinbruch in alle dort stehenden Autos durchgeführt. Auch das Auto von Annas Eltern wurde aufgebrochen. Und nun soll sie mit ihrem Vater zur Polizeiwache fahren, um Anzeige zu erstatten. Während sie auf der Polizeiwache warten, versucht sie ein Plakat zu lesen: „Die Polizei – dein Freund und Helfer“. Sie erinnert sich vage an das Gespräch am Abend zuvor, war da nicht von „Bullenschweinen“ die Rede? Es musste um eine andere Gruppe von Menschen gegangen sein…
Anna ist verwirrt. Was ist richtig, was ist falsch? Wer ist gut, wer ist schlecht? Worum geht es überhaupt? Und wofür sollen all diese nicht enden wollenden Diskussionen gut sein? Bei der nächsten Demonstration sieht sie, dass die Demonstrierenden von Polizisten (dein Freund und Helfer?) „begleitet“ werden. Oder sind es hier wieder „reaktionäre Bullenschweine“ die das Spalier rechts und links bilden? Und die Familie von Kerstin – wird der Vater bei den Nachrichten gerade über die Teilnehmer dieser Demonstration fluchen? Und Silvias Mutter, wird sie in der Trinkhalle etwas davon erfahren, wogegen auf den Straßen demonstriert wurde?
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
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