Montag, 7. Juni 2010

Auf der Wort-Suche nach einem Kindheitsgarten

Die geladenen Autoren lasen ihre Geschichten vor. Einer nach dem anderen. Eine nach der anderen. Auf Deutsch. Autoren aus ursprünglich fremden und fernen Ländern – mit anderen Sprachen. Autoren die irgendwie und irgendwann nach Deutschland, ins deutsche Sprachgebiet kamen. Autoren also, die mit oder nach ihrer Mutter- oder Vatersprache, noch eine eigene Sprache gewählt haben: Deutsch. Ihre Werke gehören zur deutschen Literatur. Diese Autoren lasen ihre Geschichten über die Gärten ihrer Kindheit vor. Das war der Auftrag der Veranstalter gewesen. Passend zum Ort der Lesung, einer Landesgartenschau.

Geschichten über die Gärten ihrer Kindheit. Kindheitsgärten. Über das Zuhause aus früheren Tagen. Jeder hatte etwas zu berichten, etwas zu erzählen. Unterschiedlich und bizarr. Was ist ein Garten? Und dann noch, ein Garten der Kindheit? Die Sprache war von verwunschenen Orten, besonderen Bäumen, Ereignissen in der Natur. Großvätern. Menschen, die in der Kindheit eine Rolle spielen. Eigenen und fremden Gärten, Sprachgärten, steinernen Gärten, Pflanzennamen. Und: Erinnerungen.

Innere Gärten. Geheime, verwunschene Bilder wurden freigelegt. „Singende Augustäpfel.“ Sprachlich in die Sichtbarkeit gebracht. „Hörst du das Bild?“ Die Rede war von Hinterhöfen. Flussufern. Jede Wahrheit braucht ihre eigene Sprache. „Ein Herz, das nur im Garten klopft.“ Das Zuhause des Sommers. Der Sonne. Der Unbeschwertheit. Aber nicht nur das. Es ging auch um fehlende Kindheitsgärten. Um Luftwurzeln. Und das Festhalten an Wortwurzeln. Um Vorstellungen die Halt geben, einen Baum, einen Garten ersetzen. Ein nicht existentes Kinderparadies im Innern wachsen lassen.

Und hier beginnt meine Geschichte. Die erinnerte Geschichte. Eine Schicht der Geschichte. In meiner Kindheit gab es keinen Garten. Ich lebte in einer frischbetonierten Hochhaus-Neubau-Siedlung. Da gab es abgezirkelte Rasenplätze. Kleine Grasflächen, die inmitten der Betonwüste mutig ihr Dasein fristeten. Und Schilder gab es: Betreten verboten. Ballspielen verboten. Ich erinnere mich an ein kleines Stück Wiese, umzingelt von Parkplätzen, Betonwegen und Steinplatten. Das durften wir benutzen. Darauf spielten wir Ball. Und: „Ochsenberger eins, zwei, drei“ oder, „Fischer, Fischer welche Fahne weht heute?“

Eine postmoderne Kindheit im Boom der Betonwüsten. Einmal besuchte ich im Sommer eine Freundin in Süddeutschland. Und sie sagte plötzlich: „Komm, wir gehen Kirschen pflücken!“ Da war ich sprachlos. Kirschen pflücken? Das kannte ich nur aus Büchern. Oder aus den Ferien in fremden Ländern. Auf einen Baum klettern und Kirschen pflücken? Ich war baff. Obst und Gemüse begegneten mir eigentlich nur in Supermärkten – dort, wo alles blankgeputzt unter Spiegeln ausgebreitet liegt, damit es noch nach mehr aussieht.

Es gab auch keine Großväter. Beide schon tot vor meiner Geburt. Kein Gemüse, das angebaut wurde. Keine Rosen. Keinen Pfeife rauchenden alten Mann… Keine faltigen Lebensgeschichten, keine Tätigkeit an der Natur. Aber Erinnerungen. Erinnerungsgeschichten. Erzählungen meiner Großmütter. Von ihren Kindheitsgärten.

Die eine kam aus Estland. Sie erzählte immer wieder von den sommerlichen Datschen, Seen und den vielen Birken. Sie erzählte von Gärtnerinnen und frischen Beeren und Gemüse. Die andere kam aus Böhmen. Da war die Rede vom Tennisspielen auf dem eigenen Grundstück, von Ausritten am Morgen vor dem Frühstück, von Bäuerinnen, die sie mit frisch gepflückten Himbeeren erfreuten und mit Natur und bunten Blumensträußen versorgten. Großmütterliche Erinnerungsgärten.

Der Alltagsgarten meiner frühen Kindheit hat nicht viel mit Natur zu tun. Nein. Aber mit Kultur. Ein Vorstellungsgarten also? Ein Garten aus Worten. Aus Ideen und Überzeugungen, aus Vorstellungen und Utopien. Zur Zeit der Ölkrise eroberten wir uns die Straßen. Sonntags durfte nicht gefahren werden. Wir liefen Rollschuh. Auf den breiten, asphaltierten Straßen. Erweiterten unser Revier zwischen Beton und Asphalt. Genossen es, Könige der Straßen zu sein. Ein Ort des vorübergehenden Zufalls also. Der Begriff Naturschutz wurde damals in den deutschen Wortschatz aufgenommen – den kannte ich wohl, vom Wort her.

Und so war ich damals, in frühen Kinderjahren auch nicht in einem „Kindergarten“, nein, der Garten meiner Kindheit war ein „Kinderhaus“. Passend also. Dort verbrachte ich einige Jahre und rüstete mich für das Leben – einem Lebens-Garten entgegen – die Erinnerungen an meine Kindheit reproduzierend, um mit Worten Landschaften und Gärten zu malen.

2 Kommentare:

  1. Liebe Sophie, schön... Eine "moderne" Biographie fängt nicht unbedingt in einem Garten an. Die christliche Mythologie fängt zwar mit einem Garten an, hört allerdings in einem Großstadt auf: das neue Jerusalem! Herzlich, Jelle van der Meulen

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  2. Liebe Sophie,

    spannend, wie verschieden jeder zu oder in seinen Wort-Garten gelangt. Die Gärten, die du mit deinen Worten gestaltest gefallen mir jedenfalls sehr gut.Sie laden mich ein in ihnen zu verweilen und mich umzuschauen, um so manche betörend duftende, oder gar streng riechende Blume zu entdecken. L.G. von Elfriede.

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