Montag, 21. Juni 2010

Kreuzung. Treffen an einer Straßenecke

Sie schlenderte die Straße am Flussufer entlang. Eine psychologische Beratungspraxis reihte sich an die andere. Zu ihrer Linken floss das Wasser, zu ihrer Rechten waren Bauarbeiter mit der Reparatur der Straße beschäftigt. Es war gleißend heiß und die städtischen Geräusche der Stadt wurden an diesem Nachmittag von der Hitze fast verschluckt. Nur der Presslufthammer durchdrang das warme, stehende Luftmeer immer wieder. Sie blickte auf. Sie war langsam heute. Unschlüssig. Bewegte sich aber weiter und trug tapfer die schwere Tasche.

Er kam von oben. Schnellen und gerichteten Schrittes. Er hatte scheinbar ein Ziel und hastete an den Menschen vorbei. Einen Bürgersteig gab es nur auf einer Seite, dort, wo sich ein kleiner Laden an den anderen reiht. Internetcafe und Waschsalon in einem. Bäckerei, Blumenladen und die Einladung zu einem frischgemixten Fruchtsaftgetränk im bunt verzierten Glas. Auf der anderen Seite beginnt der Berg. Die Städter haben ihn mit einer Mauer abgestützt, damit er nicht in ihre Kultur eindringe. Nicht die Straße, die lebenswichtige Bewegungsader eines bedeutenden, kulturerschaffenden Ortes bedrohe. Die Unterwelt beginnt also direkt hinter den Steinen der Mauer auf der rechten Seite. Sein Blick streifte all dies nur aus den Augenwinkeln.

Der andere wollte gesehen werden und blickte um sich. Er flanierte stolz die Straße von unten nach oben. Gerade jetzt kommt er auf der Brücke an, die über den romantischen Fluss führt. Zwischen den vielen Blumenkästen, die das Brückengeländer zieren und fast überquellen, lehnt er sich über die Brüstung und lässt seinen Blick schweifen. Plötzlich erhascht seine Nase den Duft eines verführerischen Parfüms und er wendet sein Angesicht. Eine weiße Schönheit mit rotem, weit ausladendem Hut droht sich seinem Blick in dem Menschenstrom zu entziehen, wenn er sich nicht bewegt. Äußerlich bleibt er stehen, innerlich entsteht eine Geschichte.

Sie ließ sich treiben. Von oben nach unten. Aus der Altstadt, von der Stiftskirche kommend, den Berg hinab, hinunter zum Fluss. Ihre Füße schmerzten und auf dem Kopfsteinpflaster musste sie achtsam sein, um nicht umzuknicken. Sie betrachtete die Schaufenster zu beiden Seiten und begann ihre Ideen weiterzuspinnen. Aus jedem Schaufenster der eng aneinander gereihten Läden nahm sie ein Detail. Fügte es ihrer Idee hinzu. Die lachenden Stimmen um sie herum boten ihr ein Fundament und sie war überzeugt davon, den richtigen Weg zu gehen. Die Zukunft leuchtete vor ihr auf, sie brauchte sich nur im Strom weitertreiben zu lassen.

Was will der Regisseur? Wohin führt er die Figuren?

An der Kreuzung berühren sich ihre Ziele, ihre Kreise. Er von oben. Und der andere von unten. Die eine vom Flussufer, die andere aus der Altstadt. Jeder steht an seiner Ampel und überquert die gerade vor ihm liegende Straße. Aber das plötzlich entstehende Karussell dreht sich weiter. Jeder überquert noch eine Straße – die rechts von ihm liegende. Die vier sind in eine verwirrende Irritation geraten. Keiner weiß mehr, wohin er will. Wohin er soll. Sie drehen sich im Kreis. Die Kreuzung ist zum Angelpunkt geworden, der sie nicht mehr losläßt.

Die Menschenströme bewegten sich weiter, an ihnen vorbei. Eine Schulklasse, eine Touristengruppe. Autos hupten, Busse hielten an und fuhren weiter, Fahrräder flitzten über Bordsteinkanten und wechselten zwischen Bürgersteig und Straße. Motoräder ratterten. Es war warm, hell und mitten am Tag. Doch die Innenwelt der vier Zeitgenossen zog sich in diesem Augenblick zusammen und erstarrte in der Mitte der Kreuzung zu einer unbequemen Szene. Die Welt, die von der Kreuzung ausgeht, sah plötzlich aus wie ein verlassener, schattenfreier Schotterparkplatz am Sonntagnachmittag wenn die Weltgeschehen innehält und selbst nicht weiß, wie es weiter geht.

Die Tische des Dönerimbisses standen direkt neben denen des italienischen Kaffeeecks. Auf dem Bürgersteig. An der Kreuzung. Einer Kreuzung, die sich selbst gehört. An einem Stehtisch trafen sie aufeinander. Der eine hatte einen Döner in der Hand, der andere einen doppelten Espresso, sie stellte einen Teller Salat vor sich ab und die andere ein Glas frischgepressten Orangensaft. Als sie sich anblickten verschmolzen sie ineinander. Im Kreuzungspunkt begegneten sie sich selbst im anderen und erschraken.

1 Kommentar:

  1. wolfkollmann@libero.it22. Juni 2010 um 13:51

    Zweimalgelesen
    21. Juni
    Vor dem Nichts der Kreuzung
    erschrecken sie, vor dem allzu
    Grossen
    Vor dem allzu Grossen
    Wiegt die Feder,
    Das Auge
    Die Sehnsucht
    Das Mass der Liebe.
    Oder der Kreuzungspunkt.

    Nur im Gestern
    Tun sich Wege auf
    Rote,
    Stolze
    Duftende Gesten
    Erlauben es
    Zu Sehen
    Still
    Den Bogen.
    Ohne Scham
    Ohne Reue
    Ohne Zagen


    22. Juni
    Was mich in dieser Geschichte geführt hat, ist der Atem: Das Knappe, das “Einatmige” ist wie das Einsilbige, das hoch sitzt, hoch bleibt, ist Spannung, ist Geheimnis, ist Voranwollen, ist auf der Spur sein, ist Aufdecken. Dass Worte auch Atem sind und ausdrücken, was hinter dem Geschehen stattfindet, bleibt als Geschmack erhalten. Du schreitest voran, gewillt zwischen dem einen und dem anderen, und ich bleibe gebannt der Vorgabe, es ist wie ein Halt, zu erleben und zu verstehen, beides und gleichzeitig. Vielleicht einer der Fäden dieser Begegnungsgeschichte, wie du sie enthebst und entführst dem Allgemeinen und hinbegleitest ins Besondere, dass du sie dort nicht belässt, sondern zurückschickst ins fast banale Dasein, zum Döner und doppelten Espresso in der Hand, zum Teller Salat mit frisch gepresstem Orangensaft, was danach ist, wissen wir nicht, aber können wir es ahnen? Sophie, eine schöne Geschichte! Danke!

    AntwortenLöschen