Sonntag, 13. Juni 2010

20 verordnete Worte


„Benjamin war ein freundlicher, kreativer und geduldiger Mann, der in der grässlichen Werkstatt grünlichen Ungehorsam begehrte, Wünsche verschlief, den Konstruktivismus lobte, sich von Frauenschuhen angegriffen fühlte und seine Freude, seine Lust und seinen Tanz mit Begriffen begradigte.


Er lobte den Tag grundsätzlich nicht vor dem Abend. Er war ein Mann mit eigenen Prinzipien und immer auf der Hut. Wer weiß, was an so einem feuchten Frühlingstag alles noch geschehen könnte. Er war misstrauisch. Vorsichtig warf er einen Blick aus dem Fenster. Aber er sah nichts – denn es gab nichts zu sehen. Doch er hörte jemanden in der Werkstatt. Die Geräusche konnten zweierlei heißen. Nie wusste er, welche Bedeutung am Abend die bedeutende war. Die gleichmäßig singenden Kratz-Hammer-Schleif-Geräusche verwirrten ihn. Nun schon Jahre lang.

Während er am Fenster stand, blickte sie geduldig vor sich hin. Aber er wusste nichts davon, er wusste nichts von ihr. Er sah sie nicht. Denn er kannte sie nicht. Weil er sie nicht erkannte. Sie stand inmitten ihres Zimmers und begann mit dem Tanz. Freundlich lud sie ihre Glieder ein, sich zu bewegen, der inneren Musik zu folgen. Sie wusste, dass sie Vertrauen haben konnte – wie so oft schon hatte sie der Leere standgehalten und war dann in eine kunstvolle Abfolge von Bewegungen geraten, die neue Ebenen erreichen ließ. Morgen würde sich ihre Sprache mit Worten ausdrücken müssen.

Anderen Tags trafen sie in der Bank aufeinander. Sie erkannte ihn, als er vor ihr das Drehkreuz passierte. Er fühlte ihren Blick im Nacken und schaute zu Boden, auf die grünlichen Marmorfliesen, die er noch nie gemocht hatte. Für ihn gab es nur Schwarz oder Weiß. Grün befand er als unverzeihliche Farbe, die es nicht geben dürfte. Er war ein Mann mit klaren Konturen. Er musste tagsüber auf diesen Fliesen gehen, diesen grässlichen, grünlichen Bodenplatten. Sie bildeten den Untergrund, auf dem er stundenlang stehen musste. Er nahm an, dass die Farbe ihm etwa die Hälfte seiner Energie abnahm. Er war also ein Wohltäter. Für die grünen Bodenplatten.

Sie schleppte sich dahin, weil sie schlecht geschlafen hatte. Nach dem Drehkreuz wendete sie sich von ihm ab. All die vorgeschriebenen Wörter sollten in ihrer Rede vorkommen, das war das Erkennungszeichen. Aber sie hatte keine Lust und keine Freude daran. Lieber hätte sie sich vor dem Publikum bewegt. Trotzdem blickte sie freundlich in die Runde, als sie auf dem Podium stand. Geduldig wartete sie, bis sich der hohe Frauenschuh an ihrem linken Fuß wieder an den richtigen Platz begeben hatte und sie fest stand.

Benjamin sah sie und hörte ihr geduldig zu. Er erinnerte sich an den Blick in seinem Nacken und begann nachzudenken. Sie sprach über den Begriff Konstruktivismus, den sie herbei zerrte und mit allen Ecken und Kanten klobig vor die Zuhörer warf. Gleichzeitig tanzten ihre Worte durch den Saal – der Klang ihrer Stimme besänftigte das inhaltliche Aufbegehren. Ihr Ungehorsam würde sich rächen. Und er, Benjamin, begehrte ihre Worte – denn sie waren kreativ und freundlich. Er wusste, dass sie das Unternehmen angriff und er hatte den Wunsch sein Leben mit ihr zu begradigen.

„Geduldig schlief sie mit ihrem Wunsch ein und träumte von begradigten Frauenschuhen, kreativem Konstruktivismus und einem freundlichen Begriff der sie die Werkstatt loben ließ, ihr Lust und Freude brachte mit einem grässlichen, begehrenden Tanz anzugreifen, und dem grünlichen Ungehorsam zu entrinnen.“

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