Freitag, 30. April 2010

Vom Augenblick. Ein Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft

„Obwohl zum Innehalten die Zeit nicht ist,
wird einmal keine Zeit mehr sein,
wenn man jetzt nicht innehält.“

Christa Wolf in: Nachdenken über Christa T.

Zeit für die Zeit. Ich will über „Zeit“ schreiben. Und zögere – denn ich habe eigentlich keine Zeit dafür. Und eigentlich weiß ich auch nicht, was darüber zu schreiben wäre. Eigentlich. Das klingt nach Ausrede. Die Worte von Christa Wolf dringen mahnend in mein Bewusstsein. Und trotzdem, die Zeit läuft. Denn, Zeit vergeht. Gnadenlos. Zeit lässt sich nicht aufhalten. Sie lässt sich nicht zurückholen. Zeit ist ein Ereignis. Ein immer wieder neu eintretendes Ereignis. Was gebietet mir meine Zeit, mit ihr zu machen? Mit genau jener Zeit, die mir zu Verfügung steht. Was darf ich mit ihr tun? Kann, muss ich? Und, was tut die Zeit mit mir?

Ich versuche, trotz des Drängens der Zeit, mir Zeit für die Zeit zu nehmen. Über Zeit nachzudenken, in sie einzutauchen. Dem Phänomen Zeit einen tieferen, wunderbaren Sinn zu entlocken. Mich auf die Zeit einzulassen. Das Zeit-Geheimnis zu entdecken…

Und ich denke an Momo, an das Mädchen in der Geschichte von Michael Ende, das zu Meister Hora kommt. Das den grauen Herren entwischt. Und ins Reich der Zeit gelangt. An das kleine mutige Mädchen, das mit Meister Hora in ihr eigenes Herz blickt und dort das Kommen und Gehen, das Aufblühen und Vergehen ihrer eigenen Stunden-Blumen wahrnimmt und sich vom Gesang der Metalle, von Gold und Silber, berühren lässt.

Momo hat innegehalten. Im Strom der Zeit. Im Fluss des Lebens. Ja – Momo. Sie hat ihr Leben über Zeit und Raum hinaus geführt und deutlich gemacht, was es heißt Zeit zu haben, sich Zeit zu nehmen, Zeit zu schenken oder einander Zeit zu lassen. Was es heißen könnte Zeit zu stehlen, zu verlieren, zu beanspruchen oder eben Zeit zu geben... Momo, der Inbegriff der individuellen Handhabbarkeit von Zeit!

Die Zeit,
die wir jeden Tag
zur Verfügung haben,
ist elastisch.

Die Leidenschaften,
die wir fühlen,
dehnen sie aus,
die, die wir erregen,
ziehen sie zusammen;
und Gewohnheit
füllt den Rest aus.

Marcel Proust

Zeit ist ein Mysterium. Sie hat auf der einen Seite etwas mit dem Moment, dem Augenblick zu tun, und auf der anderen mit Ewigkeit. Zeit kann sich zusammenziehen und sich ausdehnen – sie ist elastisch. Und gleichzeitig ist Zeit das Objektivste, das Gerechteste, was es auf der Welt gibt, für jeden von uns ist der Tag vierundzwanzig Stunden lang. Die Woche, der Monat, das Jahr werden zeitlich abgegrenzt – und da gibt es keine Ausnahmen. Eine Stunde hat sechzig Minuten – für jeden von uns. Ob arm oder reich, Frau oder Mann, in Afrika oder Europa, tags oder nachts.

Zeitliches Erleben hingegen ist extrem individuell. Ein Tag - oder eine Minute - kann lang oder kurz sein. Zeit kann verfliegen oder langsam dahin schleichen. Momente dehnen sich aus, ziehen sich zusammen. Bemerkt oder unbemerkt. Die Lebenszeit des Menschen, die Anzahl der eigenen Stundenblumen, ist nicht vorhersagbar.

Vom Blickwinkel der Sache, der Angelegenheit aus betrachtet, ist der Zeitpunkt ein wichtiges Element. Die Griechen kennen die beiden Qualitäten Kronos, die quantitative Zeit und Kairos, die „rechte (qualitative) Zeit“. Der sich anbietende Moment, der passende Zeitpunkt an dem etwas geschehen kann. Denn, alles hat seine Zeit. Dinge können zu früh oder zu spät oder eben genau zum richtigen Zeitpunkt kommen, gehen, geschehen, sein. Um es in Gurnemanz‘ Worten im Parsifal von Richard Wagner zu sagen: „Zum Raum wird hier die Zeit“.

Und nun holt mich die Zeit wieder ein. Meine Zeit für die Zeit neigt sich ihrem Ende zu. Andere Zeitereignisse rufen mich. Die Worte von Christa Wolf aber trage ich in meinem Herzen und nehme sie von Augenblick zu Augenblick mit, um immer wieder inne zu halten.

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