Freitag, 16. April 2010

Vom Einsteigen in Texte und Bilder. Ein offener Zwischenraum

Literarische Texte und Erzählungen erwecken Bilder im Leser. Das Handlungsgeschehen erhebt sich über Worte, Sätze und Strukturen des Textes hinaus und erwacht zu eigenem Leben. Wenn Romanfiguren stimmig beschrieben – gezeichnet – werden, dann erfährt der Leser mehr über sie, als tatsächlich mit Worten beschrieben wird. Aus Buchstaben werden Landschaften, Stimmungen und Figuren, ja es entstehen sogar bewegte Bilder, also Handlungsabläufe, Vorgänge und Bewegungen. Ein guter Text schenkt dem Leser eine innerlich farbige, reich bebilderte Geschichte, die sich formt, bewegt und verändert.

Ein Leser hat die Möglichkeit, die Bedeutung der ihm entgegenkommenden Wortkombinationen mit seinen eigenen Erfahrungen oder Phantasiekräften zu verbinden. Er steigt in die Erzählung ein. Aber jeder Leser liest literarische Texte anders und wir können die Anknüpfungspunkte, die inneren Bilder, die entstehen, nur annähernd miteinander teilen und vergleichen, da sie immaterieller Natur sind.

Wie verhält es sich mit der Arbeit von Malern, mit Bildern die ich als Betrachter von außen anschaue, betrachte und an mich heranlasse? Auch sie erzählen Geschichten. Irgendwie. Auf eine andere Weise als Texte das tun. Es entstehen also beim Betrachten von Bildern innere Texte.

Ein Bild ist eine Momentaufnahme. Und obwohl ein Bild sich nach der Fertigstellung nicht mehr verändert, kann es doch Bewegung ausdrücken. Horizontal und vertikal, in Zeit und Raum. Ein Abdruck aus der Seele des Künstlers, der das Bild nach außen gesetzt hat, zieht sich auf der Leinwand zusammen und befreit sich selber über das Gemälde hinaus und es entsteht etwas Neues. Größeres. Gute Bilder weisen weit über sich selbst hinaus und bilden nur den Quellpunkt ihrer selbst.

So wie sich Leser und Text in einer immer wieder neu entstehenden Gegenwärtigkeit einander zugewandt gegenüberstehen, stehen sich auch Betrachter und Bild im Jetzt gegenüber. Die innere Verbindung, die zwischen den beiden entstehen kann, muss üblicher Weise vom Leser oder Betrachter gesucht werden. Er muss die Tür in sich öffnen, um das Angebot, das ihm gemacht wird anzunehmen oder abzulehnen. Wenn sich die Tür öffnet, kann sich eine Gegenwärtigkeit entfalten, die über den Moment hinausgeht und zum inneren Reichtum wird, der die Zeit überdauert.

In Paris gibt es das Musée de l'Orangerie. Dort werden in zwei ovalen (!) Räumen einige der berühmten Seerosenbilder von Claude Monet gezeigt. Es sind jeweils vier Bilder, die in einem Oval zu erleben sind. Und es lässt sich nicht schreiben, dass die Bilder in den Räumen „aufgehängt“ wurden. Nein, diese vier Bilder bilden den Raum. Der Raum entsteht aus den Bildern, durch die Bilder. Die Verhältnismäßigkeit zwischen Betrachter und Betrachtetem verändert die übliche Hinwendung vom Subjekt zum Objekt. Die Richtung der Bezüglichkeit dreht sich in diesem Bilder-Raum um.

Für den Betrachter entsteht eine besondere Situation. Wenn man in den ovalen Raum hineinkommt, betritt man die Bilder. Der Betrachter steht oder sitzt inmitten der vier Bilder, die viele Meter lang, und damit raumfüllend sind. Der Betrachter wird selber zum Seerosenteich, zu einem Teil der Bilder. Die Geschichte, die sich dort entspinnt, lässt sich nicht mehr losgelöst betrachten. Bild und Betrachter werden eins, die Perspektive verschränkt sich. Der Betrachter wird zum Protagonisten des erzählenden Bildes.

Marcel Proust, ein Zeitgenosse und Bewunderer Monets, hat in seinem Roman A la recherche du temps perdu auf literarischer Ebene etwas Entsprechendes gemacht. Er beschreibt die Suche seines Protagonisten nach Erinnerung. Willentlicher und unwillkürlicher Erinnerung. Er beschreibt, wie in seinem Helden eine Erinnerung durch eine Tasse Lindenblütentee und das Eintauchen einer Madeleine, also durch Geschmack und Geruch aufsteigt. Diese Beschreibung ist sehr berühmt geworden und hat den Begriff mémoire involontaire geprägt. Damit holt der Autor den Leser in den Text hinein.

Literarische Texte lassen innere Bilder entstehen und Bilder gebären Texte, Geschichten, Erzählungen. Es entsteht ein Gewebe zwischen Text und Leser sowie zwischen Bild und Betrachter. Diese neue Textur, die in einem Zwischenraum entsteht, macht das Geschehen zu einem sich immer wieder neu vollziehenden Ereignis. Dieser Zwischenraum kann mit unseren Handinnenflächen verglichen werden. Wenn zwei Menschen sich die Hand geben, so berühren sie sich physisch. Diese Begegnung kann angenehm oder unangenehm sein, längerer oder kürzerer Dauer sein, sich kalt oder warm anfühlen. Was aber bleibt ist die Tatsache, dass sich die beiden Hände mit ihren Innenflächen nicht berühren. Darin liegt das Geheimnis verschlossen. Das Rätsel. Etwas Unaussprechbares, Unberührbares. Ein kleiner offener Raum, ein Zwischenraum eben, in dem etwas ohne Worte geschieht. Etwas, was auch zwischen Text und Leser, zwischen Bild und Betrachter entstehen kann.

Die Seerosenbilder von Monet im Musée de l'Orangerie jedenfalls laden herzlich dazu ein in ein Bild einzusteigen und einen delikaten Zwischenraum zu betreten, so, wie es der Roman von Proust auf literarischer Ebene macht.

3 Kommentare:

  1. Danke Milan! Was gefällt dir daran, was ist es, was dich anspricht - erzählst du ein bisschen davon? Herzlich! Sophie

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