Noch sind die zarten Knospen des Baumes vor meinem Fenster nicht erblüht. Aber sie streben dem Licht zu. Von Tag zu Tag dehnen sie sich filigran im Raum weiter aus. Es bildet sich lebendige Fülle, die aus Luft, Licht und Wärme entsteht. Jede Knospe erringt sich das ganz für sich – wie von unsichtbaren Fäden gezogen. Wenn ich meinen Blick unspezifisch in die Krone des Baumes richte, entsteht ein sich entfaltendes Gesamtkunstwerk vor meinen Augen.
Der Baum zeigt Kräftewirkungen, die mich schon fast die erblühten Knospen sehen lassen, obwohl sie noch nicht aufgegangen sind. Die vielen kleinen, einzelnen Knospen bilden als Baumkrone eine gemeinsame, große Knospe, die kurz vor ihrer Geburt steht. Und jede einzelne Knospe hat die gleiche Ausstrahlung wie die Baumkrone. Im Kleinen wie im Großen.
So wie die einzelne Knospe schweigend etwas über sich erzählt, einen unhörbaren aber wahrnehmbaren Monolog über ihr baldiges Erblühen hält, sind es alle Knospen eines Baumes zusammen, die in einen sanft rauschenden Dialog miteinander treten, wenn der Wind durch ihre Zweige streicht.
Menschen benutzen oft die Sprache, um in einen Dialog miteinander zu treten. Um ein Gespräch zu beginnen, um Kontakt mit dem oder den Anderen aufzunehmen, um sich auszutauschen. Sprachliche Dialoge gehören zu unserem Alltag, wenn uns Worte zur Verfügung stehen. Dialogische Gespräche können erfüllend und intensiv sein, oberflächlich oder verletzend, nachhaltig oder kurzweilig, romantisch oder aggressiv.
Zwischenmenschliches Leben wird vom Gewebe der unterschiedlichen Dialoge geprägt. Über die sprachliche Ebene dieses Austausches hinaus, gibt es aber auch noch andere Formen der zwischenmenschlichen Bezüglichkeit. Dialoge können auch ohne Worte geführt werden. Gerade auf dem Spielfeld der Freundschaft, die auch als ein lang anhaltender Dialog zwischen zwei Menschen bezeichnet werden kann, gibt es oft Momente, in der die warme Bezogenheit aufeinander anders als durch Worte ausgedrückt wird. Durch Mimik und Aufmerksamkeiten, Taten oder Geschenke, innere Begleitung und vieles mehr.
In einem Dialog liegt meine Aufmerksamkeit beim Anderen, in dem Gebiet, das zwischen uns webt. Was wäre ich ohne den anderen? Ohne zwischenmenschliche Bezüglichkeit? Ohne meinen eigenen Monolog, der durch den Anderen zum Dialog wird. Wie könnte ich selber auf die Fragen, Anmerkungen oder Erlebnisse des anderen kommen, ohne mich ihm zuzuwenden?
Innere Aufmerksamkeit braucht auch der eigene Dialog den ich mit der Zeit in der ich lebe führe, mit der Natur die mich umgibt, mit den politischen Ereignissen meines Landes und meinen eigenen geistigen Idealen. Bewegung und Entwicklung entsteht an den Schnittpunkten, an denen sich zwei Kreise berühren. Dialoge führen in ein soziales Miteinander.
Ganz anders verhält es sich mit dem Monolog. Gerade durch ihn schalte ich die Welt um mich herum aus. Ausgestaltete Monologe kennen wir von der Bühne. Eine Figur macht sich öffentlich Gedanken über etwas. Sie bringt Innerlichkeit nach außen und lässt so die Umgebung Anteil an inneren Gedankenspielen nehmen. Dies geschieht aber gerade nicht mit einer dialogischen Grundhaltung – aus diesem Grund entsteht beim Zuhörer auch oft ein Unbehagen, wenn jemand monologisiert. Man wird Zeuge einer Innerlichkeit. Ein Monolog ist durch Einsamkeit geprägt, vom „eigen und einzeln sein“.
Wenn ich ganz bei mir bin und einen Moment lang nicht von meiner Umgebung geleitet werde, dann befinde ich mich in einem inneren Monolog mit mir selber. Bekannt ist diese Form auch in der erzählenden Literatur. Einen Monolog brauche ich, um mich selber zu spüren und abzutasten, um zu fühlen wo und wer ich heute bin. Es ist ein Gespräch mit mir selber. Innere Monologe sind identitätsstiftend.
Wenn das Verhältnis zwischen mir und der Welt kippt, kann es zu Ersatzhandlungen kommen, die uns oft aus dem Gleichgewicht werfen. Wer hat nicht schon einmal Menschen beobachtet, die auf der Straße mit sich selber Dialoge führen, oder Menschen, die in einem Gespräch in einen Monolog verfallen und das Gegenüber vergessen?
Es gibt aber auch monologische Darstellungsweisen, die inhaltlich einen Dialog präsentieren und gleichzeitig in ihrem Monolog einen Dialog mit den Zuhörern eröffnen. So etwas hat sich am letzten Wochenende an der Stuttgarter Staatsoper ereignet. Dort wurde in einem 18-stündigen Lesemarathon (Samstag, 22 Uhr bis Sonntag, 16 Uhr) das gesamte Parzivalepos von Wolfram von Eschenbach durch renommierte Mediävistikprofessoren aus ganz Europa auf mittelhochdeutsch vorgetragen. Ich habe die Lesung mithilfe eines Livestreams im Internet verfolgt.
Durch die eindringliche Sprache, die sich mir zu ungewohnter Zeit und in einer unglaublichen Dichte wie ein Einweihungserlebnis anbot - früher wurde die Geschichte nur mündlich durch Erzählungen weitergetragen! - lebt nun die gewaltige Geschichte um Parzival und Gawan erneut so in mir, dass die mittelhochdeutschen Verse, die in mich eingezogen sind, in mir klingen. Die alten Worte erfüllen mein Inneres als vielstimmiger Monolog. Daraus könnte sich ein Dialog entwickeln.
Monolog und Dialog gehören zusammen, so wie das Individuum und die Welt. Sie brauchen einander, um sich über sich selbst hinaus zu entwickeln, zu verzahnen und sich zu entfalten. Zusammenziehung und Ausbreitung wechseln einander ab. So, wie die vielen einzelnen Knospen an dem Baum vor meinem Fenster auch erst durch ihr monologisches, individuelles Streben zu einem dialogischen, weltoffenen Gesamtkunstwerk avancieren.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
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