Dienstag, 18. August 2015

Anna und ihre Großmutter (I)


Das Fatale in Annas Leben ist ihre unumwundene innere Ausrichtung auf andere Menschen. Sie merkt es nicht immer. Und wenn, dann ist sie sich meistens nicht klar darüber, was das für die anderen heißt – geschweige denn, wie sie selber damit umgehen könnte. Aber wer würde sich schon in solch einer glücklichen Lage schätzen? Den Anderen zu beschreiben, zu beurteilen oder gar zu verurteilen liegt näher. Das Antlitz eines Menschen ist eine offene Bühne. Daran kommt niemand vorbei. Man sieht zwar nicht hinter die Soffitten, auch nicht in die Untergründe oder in den Bühnenhimmel. Was aber auf der Bühne geschieht ist wie ein Spiegel, der alle Tore öffnet und das scheinbar Verborgene preisgibt.

Bühnen sind gefährlich. Menschsein ist gefährlich. Jemand könnte etwas sehen, was nicht gezeigt werden will. Jemand könnte einer Kleinigkeit ansichtig werden – wenn er denn schaut - von dem sein Besitzer nichts weiß. Aber umgekehrt ist es genauso. Also sitzen wir in einem Boot. Die eigenen Augen sind Okulare für das, was die anderen versuchen unter Verschluss zu halten. Der eigene Blick vermag das nicht auszuhalten. Das Schauen von außen und das Schauen von innen treffen sich – wenn sich zwei Menschen aufeinander einlassen. Das wussten wir doch schon. Oder?

Es gibt kein Oder. Anna weiß das. Es ist eine alte, weise Wahrheit. Und gerade diese Wahrheiten, sie sind meist klein und unscheinbar, stellen Ansprüche. Sie suchen Bewegung und Menschen, die bereit sind die Kathedrale zwischen sich zu erbauen und einander von den Dingen zu erzählen, die unscheinbar genannt werden.

Der Sommerwind rauscht durch die Bäume. Am Himmel ziehen kleine Wölkchen eilig nach Osten. Der hellblaue Himmel dahinter wirkt wie eine Wand aus Pappe. Das nachmittägliche Sonnenlicht erfasst das Grün der Blätter, die im Wind rauschen. Fast denkt Anna, dass sie am Meer säße. Jedoch steht sie am Fenster. Am Fenster im Zimmer ihrer Großmutter, die hinter ihr liegt und gerade verstorben ist. Anna weiß es, obwohl sie sich noch nicht umgedreht hat. In einem stillen Sturm hat sie sich aus dem Leben verabschiedet. Trotz der äußeren Geräusche hat Anna die leisen Atemzüge der alten Dame gehört. Jetzt ist es still. Ganz, ganz still.

Anna weiß, was zu tun ist. Aber sie wartet. Sie atmet und schließt die Augen. Dann dreht sie sich langsam um und schaut. Ein leiser Wind weht durch das Fenster, die Rosen sind umgefallen. Die Blütenblätter haben sich über den Tisch und den Boden verteilt. Der Mund der Großmutter steht ein wenig offen. Ihre Hände haben sich geöffnet. Ein Auge ist nicht ganz geschlossen. Sie sieht noch genauso aus wie vor einigen Minuten. Das hagere, faltige Gesicht glättet sich. Anna kann zuschauen. Die Rosenblätter fallen, aber das Gesicht der Großmutter blüht auf. Ihre Würde kehrt zurück. Endlich. 

Wahrheiten überdauern, genauso wie Geheimnisse. Nun ist Anna das neue Geheimnis, das Rätsel ihrer Herkunft. Die Großmutter hat alles, was sie wusste mit hinter den unsichtbaren Vorhang genommen, hinter dem sie verschwunden ist.

Die Ausrichtung auf andere Menschen bedeutet Interesse. Anteilnahme. Eine fragende, offene Haltung. Aber sie kann auch Abhängigkeit bedeuten, denn ihr Kern ist kein Kern sondern ein Loch. Sie kann bedeuten ausgeliefert zu sein. Anna weiß es. Manchmal geht sie mit ihrer Einsamkeit tanzen und verweigert den Blick nach außen. Sie ist dann wunderschön und ganz bei sich, das weiß sie. Schon oft wurde ihr das gesagt. Ihre silbrig glänzenden Tränen legen sich wie eine Kette aus Perlen um ihr Dekolletee. Und sie spürt ihren warmen Herzschlag. Und fühlt die Erhabenheit lebendig zu sein. Und Menschen um sich herum zu haben, die entscheidend für sie sind.

Anna faltet die Hände und dankt ihrer Großmutter. Der Tod offenbart alles und nichts. Die Großmutter schaut jetzt auf sich selber, wie andere zu Lebzeiten auf sie geschaut haben. Ihr Blick hat das Tor zu ihr selbst geöffnet. Die Wartezeit ist vorüber, der Vorhang öffnet sich. Die Verbundenheit zwischen den beiden wird bleiben, da sind sie sich sicher. Nun gilt es innere und äußere Bilder zu verbinden. Darüber zu reden, alles Weitere zu organisieren. Noch weiß es niemand. Das Rauschen des Windes ebbt ab, der Abendhimmel wölbt sich schützend über die Taten der Menschen. Am Himmel ist ein erster Stern zu sehen.

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