Mittwoch, 19. August 2015

Anna und ihre Großmutter (II)


Der Vorhang öffnet sich und ihr Lebenspanorama liegt vor ihr. Vielleicht müsste sie besser sagen: umringt, ja durchzieht sie. Das Oben und das Unten, links und rechts, vorne und hinten haben ihre scharfen Ränder verloren, ihre zugewiesene Größe eingebüßt. Sie steht mitten in ihrem Leben und bewegt sich gleichzeitig im Leben ihrer Nächsten – schwerelos, stimmlos.

Sie sieht die Bilder ihrer Kindheit und Jugend genau so scharf, wie die ihres Erwachsenenalters oder ihres Alters, sie ist mittendrin und schaut sich zu – gerade noch hat sie Zeit mit Anna verbracht, die ihr tage- und wochenlang Gesellschaft geleistet hat. Allein durch ihre Aufmerksamkeit überwindet sie das, was man auf der Erde geographische Entfernungen genannt hat.

Alle Ereignisse sind da, jegliche Menschen, jeder Ort und jeder einzelne Moment der Zeit, die sie auf der Erde verbracht hat. Sie sieht und spürt alles gleichzeitig. Überwältigt gibt sie auf und ergibt sich - die irdischen Vokabeln taugen nicht mehr. Schauen heißt sehen und fühlen und wollen und verstehen… Sie muss sich in der neuen Dimension zurechtfinden. Die Zeitlichkeit verschiebt sich, Minuten werden zu Jahren, Unendlichkeit ist Jetzt.

Sie ist damit konfrontiert, was sie getan hat. Und was sie nicht getan hat. Eingreifen kann sie nicht. Ja, das ist es. Handeln ist nicht möglich. Aber sehen, verstehen, fühlen, denken, wollen… Taten liegen in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Gerade das Tun in der Gegenwart fehlt – das, woraus das irdische Leben besteht. Sie sieht sich auf dem Bahnhof stehen. Ja, sie steht gleichwohl auf dem Bahnhof. Gerade noch hat sie sich verabschiedet. Winkend, das rote Tuch in der Hand, Tränen über die Wange rinnend, den Blick gen Westen gewandt.

Bevor der Zug abfuhr hatten sie in der Gaststätte des hölzernen Bahnhofs zu Mittag gegessen und Pläne geschmiedet. Mutig und voller Lebensfreude hatten sie zusammen gesessen, die Füße hatten sich unter dem Tisch immer wieder berührt, und davon gesprochen, wie sie es machen würden. Er versprach ihr sich sofort zu melden. Postalisch. Oder, wenn es irgendwie ginge auch fernmündlich. Sie sollte sich tagsüber im Atelier aufhalten und die telefonischen Aufträge entgegen nehmen – damit er sich erreichen konnte, ohne dass…

Erst wenn das Haus in der Hauptstadt gefunden wäre, würden sie es offiziell machen. Noch wussten die Familien nichts. Sie hatten große Pläne, die Zukunft wäre ihre, wenn der Brief überbracht wäre. Sie hatten bereits über einen Namen gesprochen und über die Rolle, die sie spielen würde. Endlich, endlich war es so weit.

Aber was folgte waren Tage des Wartens, Wochen, Monate. Sie hörte nichts. Nie mehr. Es war still, es blieb still und sie wusste irgendwann, dass es immer still bleiben würde. Sie lief zwischen dem Telefon, der Poststation und dem Bahnhof hin und her – sie konnte die Ruhe nicht ertragen und wollte sich nicht in ihr Schicksal ergeben. Was sie nicht tat, war in den Zug zu steigen. Das war ein Fehler.

Wie durch einen Schleier sah sie plötzlich das Szenario, was geschehen wäre, wenn sie gefahren wäre. Ihr Leben mit ihm – vor seinem Tod. Aber sie ist nicht gefahren. Und so wurden die Würfel neu gemischt. Sie bog in ein Schicksal ein, das sie nie betreten wollte. Sie wusste es und konnte es nicht ändern. Im Schnittpunkt ihres Lebens war sie allein. Und blieb es. Und auch er blieb allein, sogar im Tod.

Wie konnte sie das wieder gut machen – der Schmerz nagt an ihrem Herzen. Sie bekommt kaum mehr Luft. Etwas Warmes, Weiches umhüllt sie, Sphärenklänge umschmeicheln ihr Sein. Sie braucht eine Pause. Das, was getan wurde, und das, was gerade nicht getan wurde hält sich die Waage – sie kann es nicht mehr ändern. Eine Seite im Buch ihres Lebens, das die Story vom Weg abgebracht hat. Mühselig war die Suche im Unterholz nach einem kleinen Pfad – den Highway mied sie fortan.

Alles, was ihr vorüberziehendes Leben zeigt, fordert Konsequenz. Sie schaut zu Anna, wie sie neben ihrem Bett sitzt und schickt ihr Herzensgrüße, obwohl nichts gesagt war, war es mehr, als das, was zu ertragen war, was Anna für sie getan hatte. Sie würde mit dem Geheimnis leben können. Der Blick aus dem Innern trifft sich selbst in dem großen, weiten und breiten Blick aus dem Außen.

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