Samstag, 22. August 2015

Oskar Koneczny: Schreiben über den Tod hinaus


Ich sehe: Der schmale Mann mit der tiefen Stimme steht mit seiner Pfeife vor dem Eingang und raucht. Unter dem Wollpullover trägt er ein Hemd, um den Hals hat er ein Tüchlein gewickelt, den Kopf ziert eine Mütze. In einer Hand hält er seine Pfeife, die andere steckt er in die Hosentasche. Er wippt mit seinen Füssen. Sein aufmerksamer Blick wandert immer wieder zwischen dem Boden und der Ferne hin und her. Dann schaut er mich an und erhebt seine tiefe Stimme.

Ich erinnere mich: Ich bin ihm schon als Kind begegnet. Selten. Aber immer wieder. Damals bin ich vor ihm zurückgewichen. Ein großer, fremder, respektgebietender Mann mit tiefer Stimme, die aus einer anderen Welt zu kommen schien. Sein Platz am gemeinsamen Mittagstisch war die des Familienoberhaupts. Er fragte jeden, was es zu berichten gäbe und hörte einen Augenblick aufmerksam zu, bevor er das Haus für seine Arbeit wieder verließ.

Ich denke: Heute ist das anders. Er berichtet von seinem Leben und ich höre zu. Er erzählt von den verzweigten und vielfarbigen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen, die sein Schicksalsnetzwerk ausmachen. Familie, Freunde, Arbeitskollegen und Weggefährten. Länder und Orte spielen eine Rolle sowie Arbeitsstätten und Projekte. Mehreres passiert gleichzeitig, auf allen Ebenen ist etwas los. Das Leben ist bewegt und sehr ereignisreich.

Ich lese: Auf seinen Füssen ist er weit gelaufen. Kindheit und Jugend sind von Krieg und Vertreibung geprägt, Verluste gibt es bereits von Kindesbeinen an zu beklagen, die aber in seinem Lebensbuch Erinnerung und Heimat über das grausame Ende hinaus finden. Die Vergangenheit liegt weit hinter ihm, das betont er immer wieder, Schritt für Schritt ist er aus ihr herausgetreten, hat den Fuß in die Gegenwart gesetzt und gehandelt. Fast immer war er mit Weggefährten unterwegs, hie und da gab es Kurskorrekturen oder nötige Änderungen.

Ich höre: Er erzählt und erlebt wieder. Es dauert. Der Begriff des Scheiterns kommt zögernd zu Tage, denn es geht auch um Brüche, Spannungen und biographische Wogen. Parzival steht ihm zur Seite. Er hadert, schweift mit dem wachen Blick in die Ferne und richtet das Wort wieder an mich. Niemanden will er schlecht machen. Sein Urteil zeugt von Weisheit und Güte. Nicht alle Ziele konnten erreicht werden, einiges ist auf der Strecke geblieben. Mit fast allen Ecken und Kanten kann er jetzt souverän umgehen, irgendwie. Manches, was er mit seinem scharfen Blick am Horizont erahnen konnte, blieb in der Weite, in der Ferne – hat sich dem Zukünftigen anheimgestellt und sich nicht der Gegenwart präsentiert.

Ich sehe: Dafür hat er seine Hände gebraucht. Chirurgische Eingriffe, Existenz rettende Maßnahmen, Lebensqualität steigernde Operationen, geplante und ungeplante, neue Wege hat er gesucht und beschritten, ganz konzentriert im Hier und Jetzt. Das Gestern und das Morgen interessieren in diesen Momenten nicht, alles kommt darauf an, jetzt das richtige zu tun – akute Hilfe in der Not. Wer, wenn nicht er, weiß, dass Verletzungen heilen – sie aber die richtige Behandlung brauchen. Nicht alle Narben seines eigenen Lebens sind zugewachsen, haben sich aber in das Lebensgefüge integriert. Irgendwie.

Ich denke: Alles wollte er aufschreiben. Weit hat er in vergangene und zukünftige Zeiten geblickt, damit nichts vergessen wird und dem biographischen Gefüge verloren geht. Stapel von Episoden liegen um mich herum. Briefe und Korrespondenzen, Artikel, Tabellen, Bücher und Filme. Alles türmt sich auf meinem Schreibtisch – da liegt ein ganzes Leben. Und immer wieder seine Frage: Welche Ordnung soll das ganze haben? Und die Ankündigung: Da kommt noch mehr! Dieses muss noch geschrieben werden und jenes. Und dann muss noch getippt werden. Der Mann der alten Schule schrieb alles mit der Hand. Fein säuberlich werden alte Papiere mit Büroklammern zusammen gehalten und angeheftete Zettel weisen auf die Zusammenhänge hin.

Ich fasse zusammen: Auch die Weihnachtsbriefe sollen noch Beachtung finden – die nicht aus seinem Blickwinkel geschrieben wurden, ihn aber betreffen. Manches kommt mit der Schneckenpost, anderes digital. Seine Lebenskarawane ist lang und hat viele Oasen besucht, die es nicht zu übergehen gilt. Die große Idee ist da. Aber noch sind nicht alle Erinnerungen niedergeschrieben. Und geordnet sind sie schon gar nicht. Gerade am Tag der geplanten Weiterarbeit hat der Tod dem gemeinsamen Unterfangen ein Ende gesetzt.

Ich frage: Was bedeutet es, dass dein Leben im Schnittpunkt einer Gegenwart beendet wurde, alles nun der Vergangenheit angehört und sich deine irdische Zukunft verschenkt hat? Der Tod hat dem Leben ein Ende gesetzt und eine neue Tür geöffnet. Deine Vergangenheit wird in die Gegenwart anderer aufgenommen, dein Leben als Erinnerung in unser Leben gelegt. Wir machen weiter mit dem, was du hinterlassen hast. Das Kommende wird sich neu konstituieren und das Andenken an dich wird eine Rolle darin spielen.

Ich resümiere: Wir, die Hinterbliebenen, werden das Erinnerungswerk fortführen – so gut wir es vermögen – und zu Ende bringen, was er vorhatte, damit es der Nachwelt zur Verfügung steht. Ich verneige mich in Dankbarkeit vor der Offenheit, die mir entgegengebracht wurde, dem Vertrauen, das mir geschenkt wurde und der Zuversicht, Ordnung in das viele beschriebene Papier zu bekommen, das die Schrift des Lebens, die Bio-graphie (‚Bios‘ – Leben, ‚Graphie‘ – Schrift) dieses besonderen Mannes uns hinterlassen hat.

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