Freitag, 1. Mai 2015

Und noch einmal: Warum die Verankerung der sieben Lebensprozesse so entscheidend ist



Die sieben Lebensprozesse: Atmung, Erwärmung, Ernährung, Absonderung, Erhaltung, Wachstum und Reproduktion ermöglichen dem Menschen physisch zu existieren, etwas poetischer ausgedrückt: in einem Körper zu leben. Die Kraft und die Treue, die in jedem der ineinandergreifenden Prozesse steckt, lässt uns, wenn wir nicht krank sind, über die physische Existenz hinaus sozial und gedanklich aktiv sein, ja sie ermöglichen uns kreativ zu sein und das uns zur Verfügung gestellte Leben aktiv zu gestalten, denn sie wirken über die physische Ebene hinaus.

Die Prozesse laufen innerhalb unseres Organismus‘, wenn wir erwachsen und gesund sind, nahezu von alleine ab, wenn wir nicht absichtlich die Aufmerksamkeit darauf lenken. Interessant ist es, dass jeder der Prozesse, die mehr oder weniger von der ersten Sekunde des Lebens bis zum letzten Atemzug (!) vollzogen werden, eine gewisse Elastizität in horizontaler und vertikaler Ebene aufweisen.

Jeder kennt das: Es gibt Lebenssituationen, in denen wir kurz und schnell atmen und solche, in denen der Atem ruhig und langsam verläuft, auch haben wir Einfluss darauf, ob wir flach oder tief atmen, langsam oder schnell, wir können den Atemrhythmus bewusst steuern oder werden durch entsprechende Tätigkeiten vorübergehend in einen spezifischen Atemrhythmus versetzt – sobald wir aufhören zu atmen ist das Leben beendet.

In Bezug auf den Wärmehaushalt ist es so, dass der Mensch (mit kleinen Schwankungen) in gesundem Zustand ca. 37°C warm ist, obgleich die verschiedenen Organe und Körperregionen unterschiedliche Temperaturen aufweisen – nichtsdestotrotz können wir uns sowohl in der Kälte als auch in der Hitze aufhalten (in Sibirien kann es im Winter durchaus -40°C werden und im Sommer +40°C), auch in dieser Hinsicht ist der Mensch also anpassungsfähig und elastisch. Ein Thema ist der Temperaturausgleich für den Körper aber ständig.

Auf der Ebene der Ernährung (wenn die Lichtnahrung beiseitegelassen wird) liegen die Unterschiede auch auf der Hand. Wir können uns bewusst oder unbewusst ernähren, auf die Qualität achten, uns Zeit für die Nahrungsaufnahme nehmen oder es lassen, fasten oder nahezu ununterbrochen essen. Jeder Mensch kann autonom entscheiden, wie er seinen Körper diesbezüglich ernährt. Jede Kultur hat an dieser Stelle andere Vorlieben und Gewohnheiten – woraus unterschiedliche Folgen entstehen.

Beim vierten Lebensprozess sieht es etwas anders aus, er lässt sich nicht so bewusst steuern, wie die drei vorigen. Die Absonderungsvorgänge: Verdauung, Schweiß, Sekrete und Speichel lassen sich nur im weitesten Sinne leiten, wir haben keinen unmittelbaren Zugang dazu und sind den Vorgängen eher ausgeliefert – sie hängen in ihrer Konsequenz davon ab, wie wir unsere Atmung, den Temperaturausgleich und die Ernährung gestalten.

Und so ist es auch mit den drei folgenden Prozessen: Erhaltung, Wachstum und Reproduktion. Diese Vorgänge verlaufen auf geheimnisvolle Weise innerhalb des Körpers ab. Der Körper erhält sich innerhalb seiner Lebensspanne, in Kindheit und Jugend wächst er – selbst im Erwachsenenalter wachsen noch Nägel und Haare und Wunden und Verletzungen heilen im Normalfall. Die Sexualität zwischen Mann und Frau ermöglicht die Hervorbringung neuen Lebens.

In der Kindheit können diese Prozesse, die im Erwachsenenalter zusätzlich in bewusste Lernprozesse transformiert werden können, gepflegt und unterstützt werden, damit sie sich einspielen und eine verlässliche Grundlage bilden. Wie kann das getan werden?

Der Gastreferent, den ich zu diesem Thema eingeladen habe und der aus einem Kindergarten kommt, dessen Selbstverständnis sich auf die Unterstützung und Verankerung der Lebensprozesse im Kind bezieht, weiß, dass die Thematik für eine Seminarstunde eigentlich zu groß ist. Aber er möchte die sieben Prozesse auf doppelte Weise schildern und ins Gespräch bringen. Einmal physiologisch und dann in Bezug auf die seelischen Fähigkeiten, die frei werden, wenn im Kindergartenalltag die Lebensprozesse durch die Erziehenden tagtäglich „gelebt werden“ und damit für das kleine und heranwachsende Kind wahrnehmbar und integrierbar wirken. Was heißt das?

Dem Lebensprozess der Atmung wird im Kindergartenalltag durch einen wiederkehrenden Rhythmus entsprochen. Freispiel (drinnen und draußen) wechselt sich mit gemeinsamen Tätigkeiten (z.B. Morgenkreis oder Mahlzeiten) ab. Einatmen und ausatmen entsprechen dem gemeinsamen, geleiteten Tun und der freien Bewegung. Nehme ich als Erziehender die Kinder wirklich wahr, bekomme ich mit, wie es meinen Kolleginnen und Kollegen geht, sehe ich, was der Raum braucht?

Der Erwärmung entspricht im Kindergartenalltag die Aufgabe, dass auch die Erziehenden „warm“ und engagiert dabei sind. Schwitzen und frieren, sowohl physisch als auch seelisch, sind für alle erlaubt und werden begleitet. Auch in einer Geschichte kann es einmal warm werden, wenn es darum geht, dass der Protagonist ein Abenteuer zu bestehen hat, Gefühle spielen im Kindergartenalltag für alle eine große Rolle und sind explizit erwünscht.

Auch der Prozess der Ernährung wird äußerlich wahrnehmbar und erlebbar gestaltet. Die Mahlzeitenzubereitung geschieht mit den Kindern, wer mag, darf helfen zu schneiden und zu mischen. Zerkleinerungs- und Aufnahmeprozesse finden mit den Kindern statt, damit sie beteiligt sind und sich als Mitgestaltende erleben. Und gegessen wird selbstverständlich gemeinsam. Die Nahrungsaufnahme wird bewusst begonnen und beendet.

Für den Prozess der Absonderung geht es im Kindergartenalltag um das Sortieren und Aufräumen – um den Wechsel zwischen Chaos und Ordnung. Ausgelassenes Spiel und das Aufräumen wechseln sich ab. Jedes Ding hat einen Platz, an den es zurückkehren kann, eine nachvollziehbare Ordnung (auch auf der ästhetischen Ebene) ermöglicht es den Kindern sich einzugliedern und im Raum zurecht zu finden.

Für den Prozess der Erhaltung wird im Kindergarten repariert, geputzt und gepflegt. Viele kleine „Narben“, sowohl materiell als auch physisch können geheilt werden, wenn sie gut gepflegt werden. Der Wegwerfkultur wird die Pflege entgegen gestellt, viele Gegenstände können wieder und wieder verwendet werden, damit der Wert erhalten bleibt.

Für das Wachstum werden Beobachtungen in der Natur gemacht (heute knospt die Blüte, morgen blüht sie auf), es wird gestrickt und gewebt (manches wächst langsam und stetig), oder der Hefeteig betrachtet, wenn er sich nach dem Gehen um das Doppelte vergrößert hat. Auch die Kinder wachsen und brauchen immer wieder neue Schuhe, woran deutlich wird, dass alles in Bewegung ist.

Schließlich wird in dem Kindergarten, dessen pädagogisches Konzept sich u.a. auf die Verankerung der Lebensprozesse bezieht, für den Prozess der Hervorbringung vieles selber hergestellt. Damit die Kinder die freiwerdenden Fähigkeiten zu kultivieren lernen, werden Kerzen gezogen, kleine Schnitzarbeiten gemacht, Bilderbücher gemalt, Geschichten erzählt und vieles mehr.

Die Verankerung der Lebensprozesse in der Kindheit scheinen mir außerordentlich zukunftsträchtig zu sein, damit die Lernprozesse im Erwachsenenalter gelingen - wenn es uns so schwer fällt, schon wieder etwas Neues zu lernen, uns umzustellen und eingefahrenen Wegen den Rücken zu kehren, schlicht uns ständig zu verändern und gleichzeitig unsere Identität zu wahren.

Leben und Lernen stehen in einem spannungsvollen Gegensatz, der sich produktiv nutzen lässt, wenn wir den Geheimnissen der Entwicklung ein wenig näher kommen und das menschliche Potenzial nutzen.

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