Freitag, 10. April 2015

Leben und Lernen. Woran orientiere ich mich, wenn ich mich verändern möchte?



Wie erhalten sich Menschen lebenslang die Fähigkeit immer wieder umzudenken, neu zu schauen, anders zu handeln, als sie es bislang gewohnt waren? Wie kann ich flexibel und gleichzeitig selbstsicher bleiben, wenn es heißt etwas (noch) nicht zu können, etwas Neues auszuprobieren, was bislang nicht in den eigenen Erfahrungshorizont gehört, sich einzulassen auf Situationen, die noch unbekannt sind, Positionen einzunehmen, auf die ich nicht aus Erfahrung zurückgreifen kann, sondern die dazu auffordern mutig und vorbehaltslos unbekannte Wege zu gehen? Woran orientiere ich mich?

Die Spannung zwischen Leben und Lernen ist ein Balanceakt zwischen Kontinuität und Veränderung. Auf der einen Seite bin ich als Individuum dazu aufgerufen meine Identität zu entwickeln und zu festigen – mich selber im Laufe der Kinder- und Jugendjahre kennen zu lernen, mir meine Werte und Normen bewusst zu machen, eigenständige (wiedererkennbare) Positionen zu etablieren und individuellen Motiven zu folgen, die zu meiner Identität gehören. Auf der anderen Seite muss ich, gerade als gestandenes Individuum, offen und flexibel für Neuerungen sein, die mich (möglicherweise) innerhalb meiner gewohnten Lebensbahnen verändern und mich dazu auffordern eingefahrene Spuren zu wechseln. Kein Lernprozess kann ohne Veränderung der Identität stattfinden, denn zu lernen bedeutet immer in innerer Bewegung und damit in einem potentiellen Veränderungsmodus zu sein. Wenn ich mir vornehme Italienisch zu lernen und das auch tue, wird es zwischen dem Zustand „Die-Sprache-noch-nicht-beherrschen“ und „Die-Sprache-tatsächlich-beherrschen“ in meinem eigenen Selbstverständnis und damit auch in meiner nach außen wahrnehmbaren Identität einen Unterschied geben.

Die grundlegende Voraussetzung für intendierte aber auch inzidentelle Lernprozesse ist das Leben an sich, das mir als Individuum geschenkt ist, solange ich physisch existiere. Etymologisch kommt das Verb „leben“ von „bleiben“ (beharren und dauern). Die menschliche Ausgangsposition hat also mit Beständigkeit zu tun, die eine gewisse Kontinuität voraussetzt und nach ihr strebt (sich einrichten und Bewährtes bewahren). Im Gegensatz zur ursprünglichen Bedeutung des Wortes „leben“ kommt das Verb „lernen“ von „leisten“, „das Verstreut umherliegende aufsammeln“, „Spuren verfolgen“[1]. Damit ist das Ringen zwischen den Begriffen leben und lernen benannt, es äußert sich in entgegengesetzten Polen: Leben heißt übertragen, der zu bleiben der ich bin und Lernen heißt im übertragenen Sinne mich auf neue, unbekannte Spuren zu begeben, um mich zu verändern. Diese Dichotomie lässt sich lösen bzw. in eine produktive Spannung verwandeln, wenn man sich auf die Spur begibt, einmal nachzulesen, wie die von Rudolf Steiner inspirierte (Waldorf-)Pädagogik und Andragogik (Erwachsenenbildung) damit umgeht und welche Konsequenzen daraus für die Fähigkeit lebenslang zu lernen entstehen.

In einer knappen Ausführung macht Rudolf Steiner darauf aufmerksam, dass es sieben Lebensprozesse[2] sind, die Leben ermöglichen und erhalten und damit grundlegend für lebendige Organismen sind. Im Besonderen führt er dies für den Menschen aus. Als notwendige Lebensprozesse nennt er die Atmung, die Erwärmung, die Ernährung, die Absonderung, die Erhaltung, das Wachstum und die Reproduktion. Es sind dies die Lebenskräfte, die ständig ineinandergreifen, ohne einen dieser Prozesse wäre Leben auf Dauer gesehen nicht fortführbar. Die Lebensprozesse ermöglichen die Lebensfähigkeit des Menschen, damit er physisch existieren kann. Zur physischen Grundlage kommen aber menschliche und soziale Bedürfnisse hinzu, z.B. sich das private Leben einzurichten, Gesellschaften zu organisieren und Konzepte zu entwickeln. Schon beim kleinen Kind lässt sich sehen, dass es den drei menschlichen Trieben Erkenntnis, Entwicklung und Verbesserung unterliegt und diese ständig anwendet (ein schönes Beispiel ist das Laufen Lernen). Dem Menschen reicht es nicht aus physisch nur zu existieren, sondern er möchte sein Leben auch gestalten und sich Fähigkeiten und Fertigkeiten erobern – er möchte hinzu lernen.

Philipp Gelitz und Almuth Strehlow (beide Erzieher) machen in ihrem Buch: „Die sieben Lebensprozesse. Grundlagen und pädagogische Bedeutung in Elternhaus, Kindergarten und Schule“[3] sichtbar, welchen Wert es hat, sich die einzelnen Lebensprozesse in ihren Vorgängen deutlich zu machen und welche Möglichkeiten es gibt, eine gute Ausbildung und Unterstützung der Lebensprozesse in der Kindheit zu etablieren. Der entscheidende Zusammenhang liegt nämlich darin, dass die Lebensprozesse eine Grundlage für Lernprozesse jeglicher Art sind. Alle Lebensprozesse sind zwar zu Beginn des Lebens schon vorhanden, es dauert aber Jahre, bis sie sich so entwickelt und eingespielt haben, dass der Körper in dieser Hinsicht „automatisch“ funktioniert.

Über die physische Funktion der Lebensprozesse hinaus stehen diese Kräfte der seelischen Ebene zur Verfügung und können für intendierte Lernprozesse produktiv genutzt werden. Alles, was in den ersten Jahren des Lebens physisch errungen wurde, kann im Jugend- und Erwachsenenalter ins Seelische und Geistige transformiert und aktiv eingesetzt werden. Coenraad van Houten († 2013) hat sich in Jahrzehnte währender Arbeit mit dieser Transformation beschäftigt und eine Erwachsenenbildung begründet[4], die sich auf die Menschenkunde Rudolf Steiners bezieht und das Lernverständnis der Waldorfpädagogik über die Kindheit und Jugend hinausführt. Er hat ein probates Mittel gefunden, die Lebensprozesse in Lernprozesse zu überführen. Es folgt nun, um einen ersten Eindruck zu vermitteln, eine konzise Darstellung der Übertragung von Lebensprozessen in Lernprozesse, die Coenraad van Houten dem Erwachsenen für den eigenständigen und bewussten Lernprozess anbietet:

Was im Physischen die Atmung ist, ist auf der seelischen, emotionalen Ebene die Wahrnehmung, die jedem Lernprozess als erster Schritt zu Grunde liegt. Bevor ich mich nicht vorurteilsfrei und offenen einem Lerngegenstand nähere, kann ich mir kein Urteil darüber erlauben. (In unserer schnelllebigen Zeit ist gerade das oft ein Problem, denn statt der Wahrnehmung wird manchmal an dieser Stelle bereits ein Urteil gefällt.) Mit einer möglichst selbstlosen Wahrnehmung des Lerngegenstandes beginnt ein integrierter Lernprozess, der dazu führen soll, sich das Neue wirklich zu eigen zu machen.

An zweiter Stelle folgt auf der Ebene der Lebensprozesse die Erwärmung, die der menschliche Organismus immer wieder ins Gleichgewicht bringen muss, um zu „funktionieren“. So ist es auf der Ebene der Lernprozesse das Interesse, das ich dem Lerngegenstand entgegen bringen muss. Ohne mich mit dem entsprechenden Inhalt zu verbinden, ihn emotional an mich heranzulassen – ob in sympathischer oder antipathischer Weise spielt dabei keine Rolle – habe ich keinen wirklichen Zugang zu dem, was vor mir steht.

Erst jetzt kann ich, nach der Wahrnehmung und meiner Verbindung mit dem Lerngegenstand beginnen, mich tatkräftig und aktiv mit ihm auseinander zu setzen. Auf der Ebene der Lebensprozesse ist es die Ernährung, die der Körper braucht, um sich weiter zu entwickeln. Im Lernprozess findet an dieser Stelle ein Verarbeitungs- und Sortierungsprozess statt, der mich dazu auffordert einen Perspektivenwechsel vorzunehmen, Dinge herauszugreifen, zu bearbeiten, kritisch zu hinterfragen, die ich weiter vertiefen und bearbeiten will.

Nachdem ich in den ersten drei Schritten den Lerngegenstand „in mich hineingenommen“ habe, muss nun eine „Verdauung“ stattfinden. Auf der Ebene der Lebensprozesse ist es die Absonderung derjenigen Stoffe, die ich (im Moment) nicht weiter gebrauchen kann. Im Lernprozess ist das die Individualisierung, die von mir Entschlüsse verlangt, mit welchen Aspekten ich weiterarbeiten will und wie ich sie bislang bewerte. Jeder Lernende trifft an dieser Stelle andere Entscheidungen, die sich biographisch und individuell bezogen auf die Lerngeschichte oder die Lernziele ergeben.

In den folgenden drei Schritten trete ich mit dem, was mich beschäftigt wieder nach außen. Im Lebensprozess folgt die Erhaltung. Das Neue, mit dem ich mich auf die eine oder andere Art anfreunde, muss erhalten werden. Dafür ist die Erinnerung notwendig und der aktive Umgang mit den neuen Erkenntnissen, den erfahrenen Erlebnissen oder den sozialen sowie ästhetischen Vorhaben. (Wenn ich eine neue Sprache lerne und sie nicht einsetze und nicht weiter übe, werde ich sie schnell wieder vergessen.)

Auf die Erhaltung folgt das Wachstum: In Bezug auf den Lernprozess ist es die Transformation in angrenzende Gebiete, die Übertragung auf ähnliche Fälle, die Erweiterung in benachbarte Disziplinen. Neue Erkenntnisse wachsen dann, wenn sie über die Quelle hinaus angewendet und integriert werden können, wenn die eigenen Lernerfahrungen erweitert werden und damit Brücken in angrenzende Bereiche gebaut werden.

Als letzten Prozess in Bezug auf die Lebensprozesse nennt Rudolf Steiner die Reproduktion, so dass die Menschheit sich durch Raum und Zeit weiterentwickeln kann und nicht plötzlich „aufhört“. Auf der Ebene des Lernprozesses ist dieser siebte Schritt die Krönung und beinhaltet die frei gewordene Kreativität, die sich aus dem ursprünglichen Lernvorhaben entwickelt hat. Wenn ich einen Lernprozess durch alle Schritte hindurch vollziehe, mache ich mir die Sache so zu eigen, dass ich sie souverän und individuell einsetzen kann (ich beherrsche eine fremde Sprache in jeglicher Hinsicht und bin z.B. auch in der Lage sie sowohl künstlerisch als auch unter Druck anzuwenden). Ich bin „Herr der Sache“ geworden, ein Spezialist und Könner, ich kenne mich darin aus und kann meine Position eigenständig vertreten.


Obgleich eine gewisse Hierarchie in den Lernprozessen offensichtlich ist, müssten sie doch eigentlich als Kreislauf dargestellt werden, denn sie durchdringen sich immer wieder gegenseitig. Das, was ich heute neu wahrnehme hat unter Umständen Auswirkungen auf das, was ich in einem anderen Prozess gerade verarbeite oder übe. Das Leben bietet die Möglichkeit zu lernen, sich weiter zu entwickeln und wach zu bleiben – dabei geht es nicht statisch oder systematisch vor. Leben und Lernen sind miteinander verschränkt, sie gehen auseinander hervor und ermöglichen sich gegenseitig.

Mit dem Erwachsenenalter (etwa ab einundzwanzig Jahren) haben sich die Lebensprozesse soweit vervollständigt und eingespielt, dass der Mensch in der Lage ist, diese Kräfte aktiv, bewusst und eigenständig über die Lebensprozesse hinaus für den eigenen Lernprozess einzusetzen, um so nach eigenem Belieben weiter den Spuren zu folgen, die für seine Lernziele relevant sind. Wenn der siebte Schritt vollbracht ist, also tatsächlich etwas gelernt wurde (was man nicht mehr vergisst) und eine individuelle und freie Kreativitätsstufe erreicht wurde, können Spuren hinterlassen werden, denen dann wieder jemand folgen kann, der sich in einen Lernprozess begibt. Leben und Lernen gehören unumschränkt und spannungsvoll zusammen, gemeinsam tragen sie dazu bei, dass der Mensch lebenslang geistesgegenwärtig, kreativ und entwicklungsfähig bleibt.


[1] Siehe DUDEN 7. Etymologisches Wörterbuch.
[2] Steiner, Rudolf: Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte. GA 170, Dornach ³1992, 7. Vortrag.
[3] Gelitz, Philipp und Strehlow, Almuth: Die sieben Lebensprozesse. Grundlagen und pädagogische Bedeutung in Elternhaus, Kindergarten und Schule. Verlag Freies Geistesleben, 2014.
[4] van Houten, Coenraad: Erwachsenenbildung als Willenserweckung. Stuttgart ³1999.








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