Freitag, 22. Mai 2015

Wie verwandeln sich alte Fragen in neue? Die Sklavin von Georg Kolbe


Letzte Woche bin ich einer Skulptur in der Bonner Kunsthalle begegnet, die mich nachhaltig betroffen gemacht hat. Von dem, was sie in mir ausgelöst hat, möchte ich heute erzählen:

Die Bronzeplastik „Sklavin mit gekreuzten Beinen“ (1917) von Georg Kolbe präsentiert den Schnittpunkt zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit. Nackt steht sie im offenen Raum. Das linke Bein kreuzt das rechte, dieser Fuß berührt den Boden nur mit den Zehen. Die Ferse schwebt in der Luft – zwischen Himmel und Erde. In den Oberschenkeln und dem Rumpf ist die gefährdete Kraft zu sehen, die dieser Figur innewohnt. Der offene Bauch zeigt Schwäche und Sensibilität. Der rechte Arm verhüllt angewinkelt ihre Brüste, der linke greift mit der Hand über den Kopf auf die Stirn der Sklavin. Der Kopf ist nach rechts oben geneigt, das offene Gesicht gen Himmel gerichtet, die Augen geschlossen.

Die leichte Anmut der starren, sturzgefährdeten und gleichzeitig offenen und weichen Figur wird durch ihre Größe (76 cm) und Farbe (dunkelbraun) unterstützt. Das Mädchen ist eine alte Frau, ihre Innerlichkeit ist geschlossen, fast wirkt es so, als sei sie nicht nackt sondern verhüllt und ihre Äußerlichkeit zerbrechlich, zwischen verzweifelter Gewalt und verzeihender Hingabe. Ein junges Mädchen, eine tanzende Sklavin und versklavte Tänzerin zugleich, Schmerz, Trauer und Verschwiegenheit werden zu einer innerlichen Schönheit, die bis ins Außen strahlt und vor Verlangen schreit.

Irgendwo hat sie in ihrem Gedächtnis die Erlebnisse archiviert, die sie durch die Zeit trägt. Es sind die alten Fragen, die in einem Keller voller unklarer Erinnerungen hausen. Ihr kindliches Unglück hat seine Adressaten verloren, sie wird einst nicht als der Mensch von der Welt gehen, als der sie gekommen ist. Die entthronte Mutter in ihr schreit still nach dem Kind, das sie war und das sie hatte – Kindsein, Altsein und dazwischen der Tanz, eingefangen im Gehorsam des Befehls. Eine Sklavin: stets zu Diensten und ohne eigenen Raum. Doch die Geliebte in ihr bewahrt sich den Schatz.

Um das Leben der Anderen zu zelebrieren verpasst sie das eigene. Ihre Angst vor der Einsamkeit lässt sie im Zusammensein stark werden, unbändige Lebenslust entströmt ihrem Körper, der die Sinnlichkeit hinter einem seidenen Vorhang erahnen lässt. Sie verabschiedet sich im Tanz aus dem Leben der Anderen, zur Sklavin gemacht durchbricht sie die Mauern der Last der Vergangenheit. Alte Fragen stößt sie mit sanften aber bestimmten Bewegungen weg, damit der Schmerz zur Kraftquelle wird und den Mut gebiert ins Offene, Weite zu schauen.

Sich nie mehr gebrauchen lassen, obgleich auch der Schutz vor Kälte und Hunger damit zerbröselt wie alter Mörtel von der Wand der Ruine. Sich nicht von alten Fragen und dem Rad der Wiederholung fesseln lassen sondern hinschauen, wahrnehmen – sich des Urteils enthalten. Dieses Mal ist die Form eckig und kantig, voller gesellschaftlich anerkannter Statements und Obliegenheiten – jedoch leblos, farblos, sinnlos, spaßlos. Auch der Geist ist wie ein begradigter Fluss in ein Betonbett verbannt. Evidenzgefühle sind höchst privat und belanglos für das Große und Ganze.

Neues entsteht, wenn Bewegung in die lemniskatische Acht des Lebens zwischen Vergangenheit und Zukunft im Schnittpunkt der Gegenwart kommt, wenn sich alte und neue Fragen vermählen und bereit sind ihre Identität zu transformieren. Wenn die Frage Musik werden kann, wenn der Schmerz sich zeigen darf und sich der Sklavin von Georg Kolbe Gesinnungsgenossen zugesellen die ihre Wunden offenbaren und daraus Mut für das Kommende schöpfen. Individuum und Welt gehen auseinander hervor und existieren nicht getrennt voneinander. „Oheim, was wirret dir“ (Parzival) ist die Frage des Mittelalters, die bis heute im Schnittpunkt zwischen mir und dir nicht beantwortet ist.

Nicht jede Frage (etymologische Herkunft: unsicher sein, bitten) verlangt eine Antwort (etymologischer Herkunft: Gegenrede!), sie schenkt sich um für Unvoreingenommenheit zu werben, für Unbefangenheit und Hingabe an das, was es ist. Die Sklavin von Kolbe ist Frage und Antwort zugleich, Sklavin und Tänzerin, Innerlichkeit und Äußerlichkeit – Evidenz zwischen alt und neu, Bitte und Gegenrede. Es hat etwas Beruhigendes, das sie da ist, auch wenn sie nicht da ist - möge sie irgendwann in der Lage sein ihre Augen öffnen um der Welt einen warmen Blick zu schenken.

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