Freitag, 29. Mai 2015

Alte Männer im Sonnenuntergang. Wien


Die Erinnerung steigt wie ein Traum aus einer vergangenen Zeit auf und entblättert sich sanft aber bestimmt an diesem Morgen. Die Tage in Wien liegen in der Vergangenheit und machen sich bemerkbar. Wie Sterne tauchen einzelne Momente am Himmel der Erinnerung an die Stadt auf, die sich tapfer gegen die untergehende Sonne zu behaupten versucht. Die prächtige Stadt bringt alte Bilder, die der Zukunft entbehren.

Leutnant Gustl war es, eine berühmte Novellenfigur Arthur Schnitzlers, der eine ganze Nacht durch Wien lief und sein Auf und Nieder bedachte, bevor er beabsichtige aus dem Leben zu scheiden. Der innere Monolog beginnt nach einem Konzert, führt über eine Bank am Prater und endet schließlich in einem berühmten Kaffeehaus. Als ich Wien noch nicht gesehen, sondern mir nur erlesen hatte, haben sich eindrückliche Bilder in mir gestapelt, die nun dem äußeren Schein gegenüber standen.

Und ich fand die Bilder, klischeeüberladen traten sie Schicht um Schicht ans Lichte. Alte Pracht, Pferdekutschen, Straßenlaternen, Kopfsteinpflaster… Die stattlichen Gebäude sind fest im Boden verankert und trotzen. Sie erzählen Geschichten, die echte Geschichten sind - erfunden und vergangen. Gepflegt wird das Alte und Gute und Prächtige und Standesgemäße. Auch wenn der Adel vor knapp einhundert Jahren offiziell von der Bühne abzutreten hatte, ist er noch immer da. Er ist anwesend und anwesend und anwesend. Und gleichzeitig die Kulisse der Stadt, die es ihr unmöglich macht ins Offene, Weite zu treten, den Boden des Morgen zu berühren.

Wir hingegen hatten Zimmer in einem bezahlbaren Hostel übers Internet gebucht, in dem es kein Frühstück gab, in dem in den Fluren ausrangierte Möbel standen, im Foyer ein Getränkeautomat zu finden war, der bei ausreichender Bezahlung Plastikflaschen mit Wasser oder Bier auswarf und das einzige Handtuch für drei Tage nicht größer als ein Putzlumpen war. Wir wohnten zwar zentral und der Lärm aus dem Innenhof beruhigte sich nach Mitternacht, der Wechsel zwischen alter Erhabenheit und realem Leben war jedoch krass.

Die alten Caféhäuser locken unumwunden mit gediegenen Gepflogenheiten, Tag für Tag, sie wiegen sich in der Aufrechterhaltung der Erinnerung daran, dass einst berühmte Männer bei ihnen einkehrten. Wien ist die Stadt alter Männer. Kaffee und Gedanken gehören schon immer zueinander – ob im Griensteidl, Hawelka oder Café Central, überall locken Torten, Gebäcke und natürlich die echte Sacher, die wirklich nur im Café Sacher zu haben und sündhaft teuer ist. Noch heute wird damit geworben, dass Süßwaren und Mehlspeisen (was für ein altertümliches Wort), an denen schon die großen Herrschaften von damals Gefallen fanden, wie immer vom einstigen k.u.k. Zuckerbäcker zubereitet werden.

Wer ohne Geschichtskenntnisse kommt, Hitlers Triumpf bereits 1938!, kann dem Anschein verfallen, dass die Stadt an der Donau eine große Bühne ist, auf der so mache Komödie gespielt werden könnte. Das Drama findet nicht öffentlich statt, nein, verborgene Intrigen regieren das Geschehen, das von manchem Komplott überschattet wird. Die Geschichte der Juden ist in der österreichischen Metropole, wie an vielen anderen Orten auch, unerträglich – Macht und Willkür wüteten. Sie lassen dem Besucher des kleinen Jüdischen Museums noch heute die Schamröte ins Gesicht steigen.


Im Akademietheater sehen wir am Abend „Die Frau vom Meer“ (Ibsen). Auch dort regiert die Kraft der Erinnerung und die Protagonistin bezahlt ihre unstillbare Sehnsucht mit dem Tod – kann doch das familiäre Umfeld mit dem Dunklen, Unbezähmbaren, Unbekannten nicht umgehen. Die Sackgasse an einem Fjord kann dem Ufer des Meeres das Wasser nicht reichen, sterben ist schon immer die letzte Alternative gewesen. Musik, Literatur und Theater sind die Schätze der Stadt, die Bewahrung erfordern.

Wien ist die glorreiche Stadt aus dem Geschichtsbuch, die ihre Macht dadurch aufrechterhält, dass sie das Alte über den Tod hinaus pflegt – selbstverständlich und öffentlich. Der Sonnenuntergang zwischen den Palästen stellt sich zu repräsentativen Zwecken zur Verfügung und ruft mit tonloser Stimme, dass die Zeit vorbei sei und die Macht der Ohnmacht weichen müsse. Aber wer hört schon auf tonlose Stimmen? Wir hatten schöne Tage und hätten länger bleiben können, wenn Zeit- und Geldbeutel praller gefüllt gewesen wären. Die Reise in die Vergangenheit war es wert und gehört nun auch zu unserem Schatz von Erinnerungen.



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