Samstag, 28. Februar 2015

Für C. - Aufwachsen in einer avantgardistischen Subkultur


Ich musste an dich denken. Wir kamen aus dem gleichen linksalternativen Milieu und suchten in unserer Jugend zeitweise gemeinsam eine Identität, die zum einen unsere Herkunft wahrte und zum anderen einer Sehnsucht Nahrung gab, einfach ganz normal zu leben und mit Leuten zu tun zu haben, die aus ganz normalen Familien kamen – weit entfernt von dem, was wir zu Hause (in einer Wohngemeinschaft) und im familiären Umkreis (wer war Freund, wer Feind?) erlebten.

Entweder hat die Zeit sich so gravierend geändert oder wir sind schon so alt, dass über „unsere“ Sozialisation mittlerweile geforscht wird – ich habe nicht schlecht darüber gestaunt. Die Habilitationsschrift von Sven Reichhardt, "Authentizität und Gemeinschaft: linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren", Suhrkamp, Berlin 2014, handelt über „unsere“ Kindheit und Jugend. Der Autor, selbst Mitte der 60er Jahre geboren, schreibt ein tausendseitiges Werk mit vielen Zahlen, Daten und Fakten.

In der Tübinger Protest-Ausstellung des Stadtmuseums berichtet er über seine Untersuchung und bezeichnet sich mehrfach als unbeteiligten Forscher, der ein Phänomen untersucht hat, das bis heute seine Spuren hinterlassen hat. Die drei großen Kapitel nennt er: Politik und Selbstreflexion, Lebensräume, Körper und Seele und durchstreift dabei alle damals relevanten Protest-Bewegungen wie die Friedensbewegung, die Anti-AKW-Bewegung, die Frauenbewegung, die Hausbesetzerszene, den Versuch selbstverwaltete Betriebe aufzubauen, Wohngemeinschaften, Zeitungsprojekte, die Freunde in Nicaragua die im politischen Kampf unterstützt werden mussten und vieles mehr – eben das, was unsere Jugend zu Zeiten des Kalten Krieges ausgemacht hat.

Reichhardt nennt „Vergemeinschaftungsorte“ wie Kneipen, Frauenzentren, Gewerkschaftsräume, linke Buchläden und nicht zuletzt Demonstrationen, die neben dem Protest auch dazu dienten ein neues Gemeinschaftserlebnis zu stiften. Gott war nicht tot (Nietzsche), sondern hatte sich nie inkarniert. Selbstverwirklichung als pragmatisches und politisches Projekt und in jeder Lebenslage. Alles musste politisch korrekt verlaufen, vom Frühstück (Butter war bürgerlich) bis zur Wahl der Kleidung (es mussten mindestens gefärbte Latzhosen sein) – die Gesellschaft sollte verändert (grundlegend neu geordnet) werden, so wollte es dieses linke und meist aus bürgerlicher Herkunft entstandene Unternehmen (in das wir hineingeboren wurden).

Es war (zeitweise) nicht einfach für uns, einen Durchblick zu bekommen, wie die einzelnen Splitter eines Tages eigentlich zusammen gehörten und ob es etwas gab, was in dieser Welt überhaupt in Ordnung war. Nach dem antiautoritären Kinderladen (in dem wir noch halbwegs unter uns waren) hieß es in der Schule (in der es auch Kinder gab, die aus kleinbürgerlichen und reaktionären Familien kamen) wachsam zu sein: Uns aufzulehnen, dagegen zu sein, kritische Fragen zu stellen und prinzipiell den Klassenfeind hinter jeder Hauswand zu erwarten - damit bin ich morgens aufgestanden.

Es gab in unserer Jugend einen Spruch, der uns beide irritiert hat: „Wir sind die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben“. Erinnerst du dich noch? Ja, der Spruch war verbreitet und wir fanden ihn cool, immerhin gab es auch für uns eine Pubertät zu durchleben, in der es auf der Tagesordnung stand, uns von unseren Eltern abzugrenzen und eine eigene Identität zu suchen. Aber – er passte nicht auf uns. Unsere Eltern haben uns nicht vor sich selber gewarnt. Das war prekär für uns (und nicht der erste Grund für eine mögliche posttraumatische Dissoziierung).

Ich erinnere mich an Nachmittage, an denen wir redeten und redeten und irgendwie versuchten, ein Lebenskonzept zu finden, das uns auf der einen Seite politisch korrekt erschien und auf der anderen Seite unseren emotionalen Sehnsüchten und Wünschen halbwegs entsprach. In dieser offenen Zeit, als es scheinbar keine Grenzen gab, war für uns doch vieles unmöglich – nicht alles durfte gedacht und schon gar nicht erwünscht werden.

Eine innere Freiheit aus unserer scheinbar so freien Herkunft mussten wir uns erst mühsam erringen – dazu gehörte es, dass wir unser Augenmerk irgendwann auch auf spirituelle Strömungen richteten, die uns erlaubten das zu fühlen, was in unseren Herzen pochte. Wir übten es, uns vom Prestige des Milieus unabhängig zu machen und sind dabei, zumindest was mich betrifft, durch interessante Phasen gegangen…

Was ich damals gelernt habe ist eigenständig zu denken, zu reflektieren, die Grenzen weit nach außen zu schieben und prinzipiell davon auszugehen, dass ich das, was ich will, selber machen und schaffen kann. Solidarisierung (Kampfgenossenschaft) und Gemeinschaft (gemeinsam sind wir stark) sind die äußere Seite der Medaille, die innere ist eine Kraft, die sich aus einer starken (realpolitischen) Autarkie rekrutiert und den Mut schenkt, das zu tun, was richtig scheint. Was ich allerdings lernen musste ist, den Mut aufzubringen mein Welt- und Menschenbild zu suchen, zu finden und dann zu formulieren sowie prinzipiell zu etwas uneingeschränkt JA zu sagen.

Was hast du aus dieser Zeit mitgenommen, wohin hat sie dich geführt?

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