Donnerstag, 2. April 2015

Klingender Name. In der Fremde zu Hause


Ich setzte mich an den Schreibtisch, denn ich hatte zwei Stunden Zeit. Ich hatte den Tisch für mein Vorhaben extra leergeräumt. Papiere, Utensilien und Kram aus Handtaschen und Koffern hatte ich fein säuberlich auf das Fensterbrett gestapelt. Nichts sollte mir im Weg sein, der Tisch frei – um die unaufgeräumten Dinge in meinem Leben würde ich mich später kümmern. Es galt mir Gedanken zu machen, zu schreiben, einen Entwurf auf den Bildschirm zu bringen. Wenigstens eine Gliederung anzulegen – überhaupt: festzulegen worum es ging, denn bis auf das inhaltliche Ziel stand nichts fest.

Als Lara den Laptop das nächste Mal aufklappte, saß sie bereits im Zug. Da sie den frühen genommen hatte, war es im BordBistro ruhig. Das Service-Team wusch Tassen ab und legte Croissants in die Mikrowelle. Als der Schaffner kam nickte er ihr zu und gesellte sich zu der dunklen Kleinen hinter der Theke, mit der er offensichtlich einen Morgenplausch zu halten gedachte. Karlsruhe – Mannheim: Dreiundzwanzig Minuten hatte sie Zeit, bis der Zug das nächste Mal halten würde. Sie schaute auf ihre Finger und knibbelte an einem Hautfetzchen herum. Dann las sie den bislang verfassten Text, änderte einige Adjektive und rief Richard an.

Richard war, trotz seines Namens, kein Deutscher. Er war zwar nicht politisch vertrieben worden, hatte sich aber für eine interne Emigration entschieden (wie er das nannte) und sich eine landesübliche Telefonverbindung legen lassen. An seinem neuen Wohnort hatte er genügend Luft zum Atmen (womit er seinen Schritt begründete). Er nahm nicht ab. Sie wusste aber, dass er ihren Anruf auf dem Display sah. Schade. Lara lauschte dem Klingelton hinterher und legte dann das Handy neben sich. Sie musste es selber schaffen. In ihrem Kopf überkreuzten sich verschiedene Stimmen, sie fühlte sich herausgefordert, ihr blieben vorerst neunzehn Minuten.

Ihre Großmutter mütterlicherseits hätte gesagt, dass sie sich in der Fremde, die ihre nationale Heimat war, niemals mehr so zu Hause fühlen würde, wie in der Fremde, in der ihre Familie seit mehreren Generationen gelebt hatte und die ihre emotionale Heimat war. Lara hörte ihre Stimme als sie noch ein Kind gewesen war. Die Großmutter sprach von Birken und Seen. Von Blaubeeren und den Sonnenuntergängen über der Ostsee. Laras Großmutter war Estin. Nein Deutsche. Sie war in Estland geboren - in Dorpat, neben der Universität - und hatte damals einen russischen Pass. Also Russin? Aber ihre Familie war deutsch. Zur Ausbildung reiste sie nach Paris. Sie sprach fünf Sprachen – eine polyglotte Weltbürgerin im Zeitalter der Eisenbahnschiene. Das entnazifizierte Deutschland war nach dem Krieg ihr zu Hause - heim ins Reich. Estland, das Land hinter dem undurchdringlichen Vorhang ihre gefühlte Heimat – alles war dort geblieben. Die Reisemodalitäten in den Osten änderten sich erst nach ihrem Tod.

Ich schaute auf meine Finger. War da nicht irgendwo ein Hautfetzchen, das abzumachen wäre? Ich war in Deutschland geboren worden. Von deutschen Eltern, die als Kinder aus dem Osten kamen. Aber ich weiß nicht, wo ich zu Hause bin, obwohl ich zu Hause bin, wo ich zu Hause bin. Orte ließen sich nennen, Herzblut fließt nicht. Langsam füllte sich das BordBistro der Deutschen Bahn. Draußen wurde es hell, Dunst lag über der raureifbedeckten Landschaft. Neben mich setzte sich eine asiatisch wirkende Frau, sie bestellte mit Handzeichen aus der Speisekarte ein Rührei-Frühstück und eine heiße Milch dazu. Ich sah mir die Hände der Frau an. Sie war nicht mehr jung, trug an der linken Hand vier Ringe, nur der Mittelfinger war frei. „Wo sind Sie zu Hause?“, fragte ich meine Tischnachbarin. Aber die Dame zu meiner Linken schaute mich nur mit großen Augen an und ich wusste, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Die zwei Schweizer am Nebentisch, offensichtlich Geschäftsmänner, sprachen in gemäßigter Lautstärke Schweizerdeutsch – davon verstehe ich nun wiederum nicht viel. Die Franzosen am Stehtisch, ich sehe sie jede Woche im Zug, verdrückten ihr Croissant, wie immer, das ihnen offenkundig nicht besonders zu schmecken schien. Die globalisierte Welt führte dazu, dass die Menschen unterwegs waren, ständig unterwegs. So wie damals? Eisenbahnschienen schreiben Geschichte. Handys versuchen ob ihrer ungeahnten Möglichkeiten Kontakte zu suggerieren, Heimatgefühle zu vermitteln.

Ich begann auf dem Laptop zu schreiben. Wie erzähle ich meine Geschichte so, dass deutlich wird, warum ich meine Heimat lauwarm erlebe und nicht weiß, wo ich mich zu Hause fühle? Das alles macht keinen Sinn, ich verstehe mich selber nicht und kann nicht glauben, dass es eine Verbindung zwischen Raum, Zeit und Resonanz gibt. Diese ständige Bahnfahrerei, 50.000 Schienenkilometer pro Jahr (immer in Deutschland!) und dennoch ist mir der Weg zu mir selber unbekannt. Da hilft auch eine Bahncard 100 nicht weiter. Sie dachte an Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen – wo kamen die eigentlich alle her, wer war wo zu Hause?

Als sie aufstand und zur Toilette ging, wurde ihr klar, dass sie, wie immer, das Unmögliche wollte. Aus dem Stehgreif eine Geschichte schreiben, die ihre Identitätssuche poetisch formuliert... Lara biss die Zähne zusammen und sah nicht in den Spiegel. Laut Personalausweis befand sie sich in ihrem Heimatland. Seit aber die Diskussion über Kriegskinder und Kriegsenkel mit ihrem zerbrechlichen Zugehörigkeitsgefühl entbrannt war, fühlte sie sich ertappt und unwohl. Sie war eine lupenreine Kriegsenkelin. Beide Herkunftsfamilien am Ende des Krieges Flüchtlinge. Gab es für sie in der Ferne etwas, das sich heimisch anfühlte? Hier im Land ihrer Geburt fühlte sie sich zwar erlaubt aber nicht wirklich zugehörig. Wie konnte das zugehen?

Als der Zug hielt, stieg sie schnell aus und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmassen auf dem Bahnsteig. Die Kälte umfing sie schroff und forderte konkrete Handlungen. Auf der Rolltreppe war kein Durchkommen, sie musste mit ihrem Köfferchen stehen bleiben und warten, bis sie unten ankam. Vor ihr standen zwei farbige Frauen – sie unterhielten sich auf Schwäbisch über Laugenbrezeln. Plötzlich schien ihr die ganze Welt voller Fremder zu sein. Wo sie auch hinsah – überall waren die Menschen auf Reisen. Offensichtlich ging es nicht nur ihr so. Am ersten Arbeitstag im neuen Jahr musste jeder schnell von A nach B kommen, um pünktlich an einem firmeneigenen Schreibtisch zu sitzen. Noch immer war sie mit der Frage beschäftigt, was ihr Zu-Hause ausmacht.

Und plötzlich machten sich ihre Erinnerungen selbstständig und folgten einer Spur. Ihre Großmutter väterlicherseits hatte auch fliehen müssen. 1945. Haus, Hof und gesellschaftliches Ansehen hinter sich lassend. Lara war einmal dort gewesen. In Tschechien, dort, wo die Deutschen seit Jahrhunderten gelebt hatten und plötzlich meinten, sich über die Landesbevölkerung erheben zu können. Die Landschaft hatte ihr gefallen – Leichtigkeit mit Wurzeln. Die Fahrt mit dem Auto eröffnete ihr einen Blick über Hügel, in die Weite, die Bäume schienen leise zu wispern – ein stilles, blutiges Land. Die Sprache verstand sie nicht, da halfen nur Hände und Füße um sich zu verständigen, die Menschen hatten derb geschnittene Gesichter aber ein freundliches Lächeln auf den Lippen. West und Ost begegnen sich hier im Sudetengebirge.

Sie hatte das Haus gesucht, wollte wissen, wo sich das Leben ihrer Familie über Generationen abgespielt hatte. Sie hatte nur ein altes Foto und wusste den Namen des Ortes. Es war noch immer Sommer gewesen. Sie hatte sich das ganz leicht vorgestellt – aber sie fand das Haus nicht. Die große herrschaftliche Elektrizitäts-Werks-Direktors-Villa. Schließlich war ein Wunder geschehen. Sie hielt das Foto in der Hand und fragte einen Mann am Straßenrand – so gut es irgendwie ging. Der gab keine eindeutigen Antworten, führte sie jedoch zu seinem Haus und bat seine Frau, den Fall zu übernehmen. Da auch diese einer gemeinsamen Sprache nicht mächtig war, wurde die alte Großmutter geholt. Und als sie das Foto sah, sagte sie in reinem Deutsch: „Das Schulz-Haus suchen Sie? Ja, da müssen Sie nur die Straße hinunter gehen und am Fluss links abbiegen. Dann stehen Sie davor!“

Die alte Frau sah das Haus auf dem Foto und verband es mit dem Namen der Bewohner, die es vor siebzig Jahren verlassen hatten – Hals über Kopf. Sie kannte die damaligen Bewohner, meine Großeltern! Lara war von dieser Begebenheit nachhaltig berührt. In der Fremde, sie war das erste Mal in diesem Land und auch nur für ein paar Tage, kannte man ihren Namen – ein Name, der ihre Identität birgt. Die Fremde sprach zu ihr, weil der Klang ihres Namens dort vibriert. Aufgeregt machte sie sich damals auf den Weg. Und ja, da stand sie dann plötzlich vor dem Haus. Es war genau das Haus, das auf dem Foto abgebildet war. Auf dem Bild war jedoch zusätzlich noch die gesamte Familie zu sehen. Von den Menschen lebte nur noch ihr Vater. Sie pflückte eine Rose und versuchte sich mit den Hausbewohnern zu verständigen. Ihr Kopf schaltete sich aus und sie spürte den Schnittpunkt der Geschichte in ihrem Herzen.

Ihr eigener Schreibtisch, er war noch immer abgeräumt und wartete leer und kalt auf ihre Rückkehr, gab ihr unterwegs ein Gefühl von Rückkehrmöglichkeit. Der Gedanke des identitätsschaffenden Namens begleitete sie den ganzen Tag. Am Abend saß sie wieder im BordBistro des ICE nach Karlsruhe. Und sie schrieb: „Einzig der dem Menschen zur Geburt geschenkte Vorname ist ein fester Punkt in dieser Welt, die sich ständig bewegt und verändert. Der Nachname ist ein Fels in der Brandung des gesellschaftlichen Lebens. Der Name bezeichnet im Lauf des Lebens in allen möglichen Welten, sprich Lebens- und Arbeitszusammenhängen ein und dasselbe Subjekt. Durch den Namen wird für das biologische Individuum eine soziale Identität geschaffen.“ Und sie dachte weiter: „Durch den Raum des Zeitlichen ist der Name eine Konstante. Der Eigenname hat Bestand, er ist ein sichtbarer Beleg für die Identität desjenigen, der ihn trägt.“ In der Stadt, in der ich lebe kennt man mich nicht, sagt mein Name nichts. Dort aber, im Osten, wo ich einen Tag meines Lebens verbracht habe, hat mein Name eine Bedeutung. Dort werde ich, als Träger dieses Namens, gesehen und geachtet. Mein Name ist mein Zu-Hause.

Als sie zu ihrem Schreibtisch zurückkam, das Fensterbrett lag noch immer voller Papiere, hatte sie
die Geschichte im vollbesetzten Abendzug bereits fertig geschrieben und packte ihren Laptop gar nicht mehr aus. Sie nahm ihr Handy und schickte Richard nur noch eine SMS.

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