Zu Überlebensstrategien von Kriegskindern, -enkeln und -urenkeln
- Kriegskinder (geboren zwischen 1935-45) - gefangen im Denken
Die Kinder, die genug Kraft und "Glück" hatten, haben das Leben damals genommen wie es war, als Abenteuer. Die Vergangenheit wurde zu einer verblühenden Erzählung, die Zukunft blieb vage aber erhofft und die Gegenwart wurde groß und dick wie eine Seifenblase - manchmal ist sie geplatzt. In den Kriegsjahren bestand die Existenz aus einer Überlebenskunst - jeden Tag aufs Neue.
Daraus abzuleiten ist, dass Kriegskinder ihren Gefühlshaushalt auf Sparflamme gehalten haben. Rationale Entscheidungen (der Elterngeneration) hatten Vorrang. Kriegskinder wurden zwangsläufig darin geschult, ihrem Denken einen größeren Wert beizumessen als ihren Gefühlen (um von ihrem eigenen Willen gar nicht zu sprechen). Das große Wunschkonzert bezog sich auf eine Zukunft, in der Sicherheit und Stabilität Vorrang haben. Die Stärke des Durchhaltens steht der Schwäche Gefühle klein zu halten gegenüber.
- Kriegsenkel (geboren zwischen 1960-70) - gefangen im Gefühl
Kriegsenkel wissen alles und es geht ihnen gut. Sie haben Zugang zu höherer Bildung und die Aussicht auf eine glänzende berufliche Zukunft. Der äußeren Sicherheit steht aber eine innere Unsicherheit gegenüber. Ihre Gefühlswelt ist reich und nicht unbedingt beschreibbar, sie steht auf tönernen Füssen. Da gibt es Ängste und Sorgen, das Gefühl nicht anerkannt zu werden und bohrende Fragen. Weder ist ein Grundvertrauen noch ein Heimatgefühl vorhanden, zwischenmenschlich sind sie auf ständige Vergewisserung angewiesen.
Kriegsenkel leben in ihren Gefühlen und wissen nicht, worauf sie sich gründen können, wo sie zu Hause sind. Die Sorgen ihrer Eltern um eine Rentenversicherung erreichen sie nur marginal, denn auch sie sind mit ihrem (emotionalen) Alltag so beschäftigt, dass kaum Platz für etwas anderes bleibt. Sie kämpfen um ihr seelisches Überleben und wissen nicht, wo sie hingehören - ihrer blendenden Karriere in Friedenszeiten stehen unsichtbare Schranken im Weg.
- Kriegsurenkel (geboren zwischen 1985-95) - gefangen im Willen
Kriegsurenkel haben es mit der Frage zu tun, was sie wollen. Sie können denken und sie können fühlen, aber sie können das nicht zusammen bringen. Emotionale Dramen gehören genauso zu ihrem Alltag wie die Veröffentlichung von privaten Erlebnissen auf Facebook - was für Kriegskinder und -enkel unvorstellbar ist. Sie tragen die Reste des großen (physischen und emotionalen) Scheiterns, das Erbe der transgenerationalen Weitergabe von Kriegstraumata mit sich herum und wehren sich vehement dagegen.
Sie wollen alles: freies Denken, offene Gefühle und mutige Willensintentionen - wobei ihnen die eigenen Schritte schwer fallen. Sie stehen auf der Bremse und geben gleichzeitig Gas. Jeder hat das Abitur, jeder kann studieren - aber die Werte und Vorstellungen der Eltern- und Großelterngeneration tragen nicht. Sie wollen nicht in alte Fallen stürzen sondern neue Formen und Wege aufbauen. Sie schauen nicht in die Vergangenheit, die verlorene Heimat oder in die Gegenwart, die gesellschaftlichen Möglichkeiten, sondern in die Zukunft, sie gehen einen Weg, der unter ihren Füssen entsteht - ohne dass sie wissen, wohin der Weg sie führt.
- Und was sie vereint
Die urteilsfreie Selbstwahrnehmung und eine frei gewählte Schulung können dazu führen, die inneren Ketten zu sprengen und das Kaleidoskop der physischen, seelischen und geistigen Möglichkeiten zu erweitern. Ein respektvoller Dialog zwischen den Generationen (was in dieser Hinsicht eine echte Herausforderung ist) kann zur Heilung beitragen.
Erst die nächste Generation wird von den Geschehnissen des 20. Jahrhunderts so weit befreit sein, dass sich ihr Denken, Fühlen und Wollen nicht mehr aus den Albträumen der gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Zerstörung rekrutiert, sondern dass sie frei und weit und offen entscheiden kann, was sie denkt, fühlt und will. Zukunft hat Herkunft. Die Katastrophe des 20. Jahrhunderts braucht (mindestens) drei Generationen, um nachhaltig verarbeitet und transformiert zu werden.
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