Die Nachrichtensprecherin hat gerade mit ihrem Bericht begonnen, ich komme morgens um kurz nach sechs Uhr mit dem Auto zum Bahnhof. Es ist hell und still, ich aber bin noch nicht ganz wach. Früh aufzustehen gehört nicht zu meinen Stärken, dennoch tue ich es, wenn es verlangt wird. Der Parkplatz direkt vor dem Bahnhofseingang gähnt mir leer entgegen. Vereinzelt stehen einige Autos da, als wenn sie vergessen worden wären. Der Morgen ist frisch und alt zugleich.
Und da sehe ich sie wieder. Zwei Männer. Sie kommen aus der Bahnhofsbäckerei. Ich schätze sie beide so um die sechzig. Der eine ist sehr dick, der andere nur dick. Sie sehen ein wenig ungepflegt aus. Bauarbeiter? Die Jeans unter dem Bauch zugeknöpft, ein strammes T-Shirt über dem Bauch und ein Pullover, der sicher zwei Nummern zu klein, auf jeden Fall aber zu kurz ist. Darüber, je nach Wetter, eine Jacke. Die ist offen. Immer. Bei beiden. Langhaarige Grauschöpfe sind es, Brillenträger. Männer der Tat.
Immer kommen sie zu zweit. Breitbeinig. Um kurz nach sechs Uhr aus der Bahnhofsbäckerei. Eigentlich sehen sie so aus, als hätten sie Currywurst und Pommes gegessen. Die Männer unterhalten sich, gestikulierend. Sie wirken nicht so, als wenn sie gerade dem Bett entstiegen und mit dem Versuch beschäftigt wären, dem Tag auf leisen Sohlen entgegen zu gehen. Im Gegenteil, es sieht so aus, als wenn sie schon so richtig etwas hinter sich hätten. Bei ihnen scheint es schon mitten am Tag zu sein. Krumme Geschäfte?
Der eine hat einen dicken Schlüsselbund in der Hand. Sie steuern auf den ersten Parkplatz zu, der dem Bahnhofsgebäude am nächsten ist, dort steht ein Auto. Per Klick leuchten die Blicklichter auf. Dieses Mal ist es ein dicker Mercedes. Ein silberner. Er steht direkt vor mir. Manchmal ist es auch ein Range Rover. Ich habe noch nicht darauf geachtet, ob in den Fällen dann vielleicht der andere den Schlüssel hat. Vielleicht doch eher Bauunternehmer? Sie steigen ein und fahren ab. Kraftvoll und selbstverständlich.
Ich frage mich, wer sie sind. Ich komme in der Regel einmal in der Woche um diese Zeit zum Bahnhof, allerdings an unterschiedlichen Tagen. Ob sie jeden Tag kommen? Ob sie ein Ritual genießen? Morgens – früh! – vor der Arbeit? Sie sehen nicht wie Genießer aus und natürlich auch nicht wie Denker. Nein, es sind eher derbe Typen. Und die Autos passen auch nicht zu ihrem Outfit. Obwohl sie lautstark reden, gehören sie in das Bild der morgendlichen Stille. Bei mir im Auto erzählt die Nachrichtensprecherin gleichzeitig etwas von Weltpolitik.
Ich weiß nicht, wo sie herkommen und nicht wo sie hingehen, aber ich sehe sie immer wieder morgens um kurz nach sechs Uhr am Bahnhof aus der Bäckerei kommen. Zwischen Tag und Nacht und immer wieder im Schnittpunkt zwischen Anfang und Ende. Ich vergesse die Typen auch immer wieder, spätestens im Zug. Und wenn ich sie dann sehe überraschen sie mich. Aber sie haben mich noch nie enttäuscht. Heute morgen habe ich an sie gedacht. Obwohl ich nicht zum Bahnhof fuhr. Ein Pfingsterlebnis?
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
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Hilde Domin
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