Freitag, 27. Juni 2014

Ménage-à-trois: Teil II

Es stand nur ihr Namensschild an der Tür. An ihrem Geburtstag wachte sie inmitten eines verwirrenden Traumes morgens auf, wie eh und je. Sie würde den Tag für sich verbringen, allein, denn sie kannte in der flirrenden Stadt niemanden – außer ihrem Sohn, von dem sie nichts wusste. Es war nichts zu erwarten, stattdessen war es grau und regnete, sie sah den Regentropfen zu, wie sie an ihrem Fenster hinunter liefen. Vor ihr stand ein Strauß roter Tulpen, Rosen gab es noch nicht. Sie stellte den Anrufbeantworter an, setzte sich mit ihrem Espresso an den Tisch und begann zu schreiben, Klaviermusik im Hintergrund.

Weit entfernt setzt sich ihre älteste Tochter Clara in den Zug. Sie hatte seit Monaten weder etwas von ihren Geschwistern noch sonst jemandem der Familie gehört, trotzdem war sie sicher, dass es klappen würde, dass ihre Lebensbahnen sich wieder einmal kreuzten – Handynummern überdauerten. Der Vormittag war bereits im Begriff sich zu verneigen und sie wusste, dass damit die Hürde genommen war, es kostete sie Mut, aber der Nachmittag würde unweigerlich kommen. Sie fuhr durch das helle und warme Sonnenlicht des Südens und legte ihre Beine auf den gegenüberliegenden Sitz. Sie trank das lauwarme Wasser aus der verknitterten Flasche und sah aus dem Fenster. Sie fuhr vorwärts, mitten in ihr Leben – dem sie so lange fern geblieben war. Gleichzeitig ließ sie sich in den Bann der vorbeigleitenden Landschaft ziehen. Der Zug kannte sein Ziel, immer der Nase nach.

Emilie hingegen, ihre Schwester, stand am offenen Garagentor der Autowerkstatt und klimperte nervös mit ihrem Schlüsselbund. Sie war müde und fror in ihrem dünnen Pullover. Konnte das Auto nicht vor der Mittagspause repariert und freigegeben werden, damit sie endlich losfahren konnte? Sie war schon spät dran und musste unterwegs noch die letzte Version ihres Manuskripts entgegen nehmen. Ob es daran wieder etwas auszusetzen gäbe? Der Wind pfiff, als der Kfz-Mechaniker auf sie zu kam und gleichzeitig ihr Handy klingelte.

In diesem Moment schlief Benno noch, allerdings befand er sich bereits in der richtigen Stadt, er träumte gerade von einem Unterfangen, den Mond unter dem Blecheimer einzukreisen und zu melken, dazu musste er mit drei Fingern einen Punkt auf dem Stein berühren, der sich hin und her bewegte. Er hatte sich erst spät hingelegt, denn das Gespräch musste aus dem Nullpunkt heraus geführt werden. Sie waren sich lange nicht einig geworden, was nun das eigentliche Problem sei, schließlich hatten sie es aufgegeben, weiter nach Worten zu suchen und sich der wortlosen Sprache anheim gegeben.

„Wie weit bist du?“
„Ich kann dich nicht verstehen…“
„Kommst du?“
Sie versuchte es noch einmal, langsam und deutlich: „W O B I S T D U ? ? ?“
„Ich höre es nur rauschen!“

Ihre Ungeduld brach sich Bahn, ihre Nerven lagen bloß, sie schleuderte den Apparat ins Auto. Gottverlassen und zornig wie sie war, griff sie in ihre Handtasche, um irgendwie Trost zu finden. Schnell zog sie ihre Hand zurück, glitschig und klebrig. Auch das noch. Bananen in Handtaschen benehmen sich unsittlich und preisen bei der ersten Gelegenheit ihre klebrige Nacktheit an. Widerlich. Sie schloss die Augen. Alles schien vertrackt ineinander zu hängen, sie suchte, wie immer, den erlösenden Ausweg. Dafür leckte sie das Süßliche ihrer Finger ab. Im Autoradio jaulte sich eine Popsängerin ihren Liebesschmerz aus der Seele. Gleich würde der Mechaniker zurückkommen, der mit dem Meister zu sprechen hatte, und den sie hoffte dann doch noch erfolgreich um ihre Finger gewickelt zu haben.

Mailbox. Jetzt ging sie nicht dran. Was sie nur wollte? Benno versuchte sich die Nacht aus den Augen zu reiben und schaute dabei schlaftrunken in den Spiegel, der über seinem Bett hing. Im Haus war es still, er hörte nur den Lärm von draußen, immer wieder das Gequietsche der Straßenbahnen. Die Sonne leuchtete scheu in sein Zimmer, der Regen hatte sich verzogen. Die Welt war blank geputzt und verbarg nichts. Er konnte die dampfende Helligkeit kaum ertragen und wünschte sich die Nacht zurück. Bevor er aber wieder in einen sanften Schlaf abzugleiten drohte, schrillte sein Handy.

„… um 16.27 Uhr, holst du mich ab?“ fragte die warme Stimme am anderen Ende. Sie kannten das Spiel von früher, einander nicht zu begrüßen, sondern gleich zur Sache zu kommen, dies Mal war es seine ältere Schwester, Clara, er erkannte ihre Stimme sofort. Schlagartig wurde ihm klar, was der Tag von ihm wollte – er erschrak. Weil er es vergessen hatte. Jetzt musste er sich anstrengen. Würde er es schaffen?

„Schön, dass du anrufst, ich habe schon darauf gewartet“ – log er mit seiner betörenden Unschuldsmiene, wie gut, dass sie nicht sah, wo er war. „Mein Akku ist gleich leer. Bringst du die Schachtel mit, von der du…“ Die Verbindung brach ab. Was war es, worum ging es? Er konnte sich nur vage erinnern. Er sprang unter die Dusche, ließ das kalte Wasser über seinen Körper laufen. Sie wollten sich treffen und es gemeinsam tun. Komme was wolle, er würde dabei sein, es war abgemacht, seit dem Krach, sie wollten zusammen hingehen. Und Emilie sollte auch dabei sein, er wusste gar nicht wo sie war, erinnerte sich aber ausnahmsweise glasklar daran, dass sie damals die Schachtel eingesteckt hatte. Ein paar Stunden blieben ihm noch, bis zu dem Treffen der drei Geschwister, die ihre Mutter zum Geburtstag besuchen wollten.

Auf dem Balkon gegenüber saß der junge Mann, der wie immer alle Zeit der Welt zu haben schien. Benno machte sich einen Kaffee, schlürfte ein Joghurt und überflog die erste Seite der Zeitung. Die Katze schnurrte um seine nackten Füße. Wie er diese Momente hasste, in denen die Dinge nicht zueinander zu passen schienen. Heute wollte er doch seiner Professorin Paroli bieten. Und dabei war er innerlich immer noch bei seinem Traum. Wovon hatte er noch gehandelt? Er wusste es nicht mehr, hatte aber das Gefühl, dass er etwas Wichtiges und Revolutionäres preiszugeben bereit gewesen wäre. Benno war immer darauf aus, die Dinge gleich im Großen umzukrempeln. Er versuchte Emilie zu erreichen.

Clara entspannte sich, sie hatte die unbehagliche Entscheidung hinter sich und döste vor sich hin, es waren noch immer 204 Kilometer, wie sie dem Faltheftchen „Ihr Zugbegleiter“ entnahm. Die Wärme und das gleichmäßige Rumpeln des Zuges hatten etwas bestechlich Beruhigendes an sich. Sie musste nur noch ankommen, endlich würden sie es machen, einen Durchbruch lancieren. Ihr Gepäck bestand aus der obligatorischen Laptoptasche und einem grünen Koffer, der sich in alle vier Richtungen drehen ließ. Ihre langen braunen Haare hatte sie zu einem Knoten auf dem Kopf zusammengedreht, das rote Kleid zeigte Schweißspuren an den Stellen, an denen es ihre nackte Haut berührte. Sie war gerannt, um den Zug zu kriegen. Der Akku ihres Handys war leer, sie hatte das Ladegerät im Schuppen an der Kabeltrommel vergessen.

Ihre Gedanken machten sich selbstständig, schlugen diese und jene Richtung ein, dümpelten daher, immer wieder trank sie einen Schluck Wasser. Sie dachte an ihre jüngere Schwester Emilie, wie sehr sie sie um ihre Klarheit beneidet hatte, damals, um ihre Willensstärke und ihren Erfolg. Seit dem Krach hatte sie nicht mehr mit ihr gesprochen, keiner wusste etwas vom anderen. Sie hatte ihre Lebensbahn von der Großstadt aufs Land verlegt, zog es vor die großen Visionen im Kleinen zu verwirklichen, im Gegensatz zu ihrem Bruder, auch, wenn sie jeden Abend sehnsüchtig in den Himmel schaute und die Sterne mit ihren Blicken umfing.

Sie konnte ja nicht ahnen, dass die, an die sie dachte, sich mit ihrem alten Auto fluchend auf der A1 befand, den nachmittäglichen Berufsverkehr in Kauf nahm und darum bangte pünktlich zu sein. Emilie hatte beschlossen, den Entwurf nicht mehr abzuholen und war nach dem Desaster an der Autowerkstatt erst einmal etwas trinken gegangen, um sich neu zu sortieren. Von ihrem Umzug hatte sie niemandem etwas erzählt, keiner wusste wo sie war, es war ja schon Monate her. Für die SMS hatte sie nur 160 Zeichen zur Verfügung, also musste sie die Worte weise wählen.

Die Drei waren ein Herz und eine Seele – gewesen. Jeder war seinem eigenen Plan nachgegangen, sie suchten Abstand und gehörten gleichzeitig zusammen. Damals war es der rettende Gedanke die Mutter zu besuchen, jeder wusste, dass es nur gemeinsam zu machen sei, wie ein lockerer Ausflug, den es in der Kindheit so oft gegeben hatte. Nun kostete es Überwindung.

Während Clara auf Gleis 12 aus dem Zug stieg – er war pünktlich –, parkte Emilie ihr Auto gerade im Parkhaus des Hauptbahnhofs und lief mit wehenden Haaren und der blauen Tasche durch das Treppenhaus in die Eingangshalle. Es war der kleine, alte Kiosk, an dem sie sich verabredet hatten. Reste der Bildzeitung lagen neben einem verwaisten Exemplar der ZEIT, schließlich war es schon Dienstagnachmittag, der Verkäufer, offensichtlich ein Italiener, telefonierte lautstark mit einer Unsichtbaren und gestikulierte dabei elegant.

Benno kam auf dem Fahrrad, mit einem smarten Lächeln, mitten durch den Menschenstrom gefahren. Er hatte den entscheidenden Rucksack auf dem Rücken, in dem die Briefe lagen – zu guter Letzt hatte er sie gefunden. Sein gelbes Rennrad kannten die beiden, er hatte es gekauft, als sie noch Kinder waren und mit Träumen durch den Tag schlenderten. Schuldzuweisungen hatten jetzt keine Chance, auch wenn es einiges zu klären galt. Sie umarmten einander, bevor Verlegenheit und Reue sich zwischen sie stellen würde – über Skype hatten sie die Befangenheit nicht wahrgenommen, der technische Anschein der Unmittelbarkeit fand den Weg bis auf den Bildschirm nicht.

„Ich hoffe, dass sie uns überhaupt die Tür aufmacht, nach all dem…“
„Sie weiß ja nicht, dass wir es sind, sie wird es schon tun. Und sie wird sich freuen, ich bin sicher! Wir werden nicht streiten, sondern…“
„Lasst uns Kuchen kaufen, Himbeertorte, und in die Schachtel legen. Emilie, du hast sie dabei? Schließlich ist es ihr Geburtstag und wir haben sie schon so lange nicht mehr gesehen…“

Sie liefen durch die Fußgängerzone und bogen an der vierten Querstraße ab. Das dritte Haus auf der linken Seite war ihr Ziel. Sie hatten es geschafft, es war 16.51 Uhr, noch neun Minuten, dann würden sie an der Haustür klingeln, so war es früher immer gewesen, um 17.00 Uhr begann der freie Teil des Tages. Sie schauten sich an und drückten auf die Klingel mit dem gemeinsamen Nachnamen. Benno nahm den Rucksack in die Hand und öffnete den Knoten, Clara stand links, Emilie mit der Schachtel rechts; ob die Mutter zu Hause war und die Tür öffnen würde?

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