Etwas abseits der Stadt erhebt sich die kahle Anhöhe, die errichtet worden war, als die Menschen drohten einander nicht mehr wirklich wahrzunehmen. Im Zeitalter der Postmoderne waren sie mit so vielen individuellen Bestimmungen beschäftigt, so dass sie Scheuklappen aufsetzten um zu überleben. Der Einzelne geriet in einen Kampf mit sich selber, die äußeren Notwendigkeiten hatten mit den inneren keine Evidenz mehr. Das Leben drohte in Einzelschicksale auseinander zu fallen.
Innerlich trug jeder, der sich für einige Zeit inkarniert hatte, weiterhin ein kleines goldenes Päckchen in seinem Herzen – seinen Gral – in dem sein Anliegen, seine Berechtigung, sein Beitrag für das Leben und die Erde begründet lagen. Dass es so etwas gab wussten die Menschen nur noch vage. Sie waren damit beschäftigt etwas für ihr Rentenkonto zu tun – es galt Entgeltpunkte zu erarbeiten und jedes Jahr bekamen sie einen neuen Bescheid der Behörde, der ihnen Bescheid sagte…
Auch die Lebens-, Rechtsschutz-, Haftpflicht- und Brillenversicherungen mussten jedes Jahr gezahlt werden und die Menschen vergaßen in dem engmaschigen Netz der äußerlichen Verpflichtungen frei zu atmen. Die unsichtbare Angst regierte in der scheinbar so freien, aufgeklärten und friedlichen Zeit des anbrechenden 21. Jahrhunderts in Mitteleuropa.
Es war eine kleine Gruppe von Menschen, die sich gegen den Strom stellte und eine Initiative begründete – so nannte man das damals – um den Schicksalsberg entstehen zu lassen. Das Land war kahl geworden, die Menschen hasteten von einem Bahnanschluss zum nächsten und versuchten über das Mobiltelefon mit der Welt in Verbindung zu bleiben, die zwar um sie herum, aber gleichzeitig irgendwie unbetretbar war. Diejenigen, die einander brauchten sahen sich nur noch selten und so mussten sie miteinander telefonieren, twittern, simsen, mailen – in der Technik lag die Hoffnung für die verlorenen Herzen.
Auf den Schicksalsberg konnten nur diejenigen gelangen – und immer mehr Menschen hatten Interesse daran – , die ihr Leben und damit ihre Herzen öffneten und in den Dienst ihrer Mitmenschen stellten. Zu Beginn eines jeden Lebens bekam jeder neue Erdenbürger, der in dieser Initiative mitmachte, zwei ältere Paten die damit betraut wurden, die Impulse wahrzunehmen, die ein Mensch aus seiner Vergangenheit mit ins irdische Leben brachte. Und etwa in der Mitte des Lebens wurden zwei neue, jüngere Paten gewählt, die darauf schauten, wohin der Mensch unterwegs war, welche Gaben er der Zukunft entgegentrug.
Kurz vor dem Tod eines Mitmenschen aus der Schicksalsberg-Initiative fand auf dem Schicksalsberg eine öffentliche Versammlung statt, bei der aber nur die Erwählten sprechen durften. Vor einem Kreuz, durch das Christus auf der Erde weilen konnte, standen drei Stühle. Eins für einen der Vergangenheitspaten, eins für einen der Zukunftspaten und eins für denjenigen, der sich frei in den Dienst des Sterbenden gestellt hat und vorhatte mit ihm weitergehen zu wollen.
Die Drei führten im Angesicht Christi ein langes Gespräch über das Leben des Sterbenden. Über seine Potenziale, seine Schwächen und Versäumnisse, seinen Weg und seine Ziele, über den spirituellen Wert seines Lebens. Und nur dann, wenn die Sprechenden ihn im Leben so getragen, begleitet und erlebt hatten, dass er durch den irdischen Abschied in der Erinnerung neu und vollkommen geboren werden konnte, durfte er tatsächlich sterben – um wiederzukommen und weiter an einer Herzensgesellschaft mitzuarbeiten, die von Menschen getragen wird und in der es keine irdischen sondern nur noch geistige Versicherungen im Angesicht der Mitmenschlichkeit gibt.
Der Schicksalsberg ist ein heiliger Ort, auf dem gerichtet und Recht gesprochen wird, aus Herzensopferkraft. Der Schicksalsberg ist die Zukunft einer Menschheit, die vorhat weiter zu leben und einander groß zu sehen, damit die geistige Transformation allen Seins stattfinden kann.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
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Hilde Domin
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